Souk auf der Sonnenstraße

Stadtkultur, wie wir sie in Urban Matters verhandeln, hat viel mit Phantasie zu tun. Zum Abschluss dieser ersten Ausgabe daher ein utopischer, heiterer, vielleicht nicht ganz realistischer Blick ins München von morgen. Marco Eisenack blickt auf das Bahnhofsviertel des Jahres 2040 – und erkennt die Stadt kaum wieder. Wie konnte es dazu kommen?

Marco Eisenack

Der Blick von hier oben ist beeindruckend. Besonders im Frühling. Faszinierend, wie schnell die Kirschbäume im April ihre Blüten auspacken, bevor ihr Aroma durch die Sonnenstraße zieht. Ich sitze gerne hier oben auf dem Dach des ehemaligen Kaufhauses, wenn ich das Treiben auf dem neu angelegten „Central-Park“ betrachte. Kaum zu glauben, dass hier vor 20 Jahren noch Asphalt und Abgase das Leben dominierten. Wegen der vielen arabischen und afrikanischen Händler, die an den Markttagen ihr Sortiment aus dem Bahnhofsviertel mit Lastenrädern an die Sonnenstraße bringen, schreiben die Zeitungen gerne vom ersten bayerischen Souk. Neben Baklava, Falafeln und Taboulé gibt es auch viel regionales Gemüse. Die neu gegründeten Gärtner-Kollektive haben gerade die erste Ernte des Jahres eingeholt – Kopfsalat, Paprika und Radieschen von den umliegenden Dächern. Auf dem Dach nebenan sehe ich gerade zufällig einen der Gärtner beim Gießen der Jungpflanzen. Es ist nicht jedermanns Job, sich bei Wind und Wetter auf den Dächern der Stadt rumzutreiben. Da passt es gut, dass viele der sogenannten GroLas (Großstadt-Landwirte) früher bei Kurierdiensten gearbeitet haben, bevor sie sich der solidarischen Landwirtschaft widmeten. Als immer mehr Lieferungen von autonomen Systemen erledigt wurden, mussten sich die Kurierfahrer neue Aufgaben suchen.

Da kam das Pilotprojekt „Erde auf unser Haupt“ gerade richtig. Landeshauptstadt München,  Freistaat, Bund und EU haben in weniger als zwei Jahren das gesamte Bahnhofsviertel mit einer auf Pfählen errichteten Garten-Ebene erweitert: Die schwebende Gartenstadt – offiziell nur eine Klimaanpassungsmaßnahme – war von Anfang an ein Renner. Ich erinnere mich noch gut an den Tag im Februar 2023, als Münchens damaliger Bürgermeister Dieter Reiter von autofreien Straßen in New York schwärmte. Ein Stadtrat hatte ihm Fotos von der autobefreiten 5th Avenue gezeigt. Völlig überraschend warb der OB für frische Ideen im öffentlichen Raum und organisierte eine Studienreise nach New York für Stadtrat und Referate – das sollte Folgen haben für eine Stadt, die bis dato dem Auto, wo immer möglich, den Asphalt ausrollte.

Nach dem ersten Spaziergang über den High Line Park diktierte Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner einem mitgereisten Lokalreporter in gewohnter Deutlichkeit in den Block: „Geiles Konzept mit dem Grün über den Dächern! Das brauchen wir in München auch. Was passt besser zu Laptop und Lederhosen als Urban Gardening über den Büros der Scale-ups?“

Noch heute wird viel darüber diskutiert, wie es dann doch alles so schnell gehen konnte – mit dem Wandel zum Guten. Der Münchner kannte es bisher eher so: Schlimmes kommt öfter und schneller, als einem lieb ist. Aber die guten Sachen, die ziehen sich wie die Wartezeit im KVR.

Es war 50 Jahre nach Olympia, dass München von ungewohntem Elan ergriffen wurde, ja man möchte fast von Dynamik sprechen, und Projekte in die Tat umsetzte.

Damals hatte die Klimakrise bereits zum wiederholten Male die Hitzekeule rausgeholt und immer mal wieder den Wasserhahn Mangfalltal abgedreht. Pandemie und Krieg in Europa packten noch ein paar weitere Krisen ins Gepäck der Stadtgesellschaft.

Kurz gesagt, es war ordentlich Druck im Kessel: Die Politik ordnete mit anfangs umstrittenen Gesetzen zu Boden-Kollektivierung, Abriss-Moratorium und Kreislauf-Kanon die Spielregeln des Städtebaus neu. Gleichzeitig tauchten in den Herrenclubs und Hinterzimmern der Münchner Würdenträger aus Wirtschaft und Finanzen immer öfter Personen auf, die nicht mehr Profitmaximierung als oberstes Ziel ihres Lebens anführten, sondern unter dem Kopfschütteln vieler die Sinnhaftigkeit als Unternehmensziel propagierten. Als die Herren aus der alten Welt (ja, es waren damals tatsächlich vorrangig Männer, die Unternehmen lenkten) plötzlich keine Mitarbeitenden mehr finden konnten und zugleich wirtschaftlich von den Konzernen aus Übersee in die Zange genommen wurden, krempelten sie kurzentschlossen alles um. Gemeinwohlökonomie wurde der neue Leitbegriff – bis hinauf in die besten Münchner Kreise. Projekte wie die jahrelange gemeinnützige Zwischennutzung im Gasteig zeigten, dass Organisationen, die nicht an Shareholdern orientiert sind, einen gesamtgesellschaftlichen Gewinn erwirtschaften, der weit über den Wert von Gewerbesteuern hinausreicht.

Veränderung bedarf offenbar solch kollektiver Aha-Erfahrungen. Manchmal treffe ich Michi Kern und Till Hoffmann auf einer der Dachterrassen rund um den ehemaligen Kaufhof, wo das Kollektiv seit einigen Jahren das „Crowd-Haus“ betreibt. Die Kulturmacher erinnern sich gerne daran, wie Immobilienmanager in teuren Anzügen damals Workshops bei ihnen buchen wollten. Sie waren auf der Suche nach Antworten, warum die vogelwilden Projekt-Experimente auch am Stadtrand so wundersam wangenrot pulsierten, während die Malls, sozusagen die Kollektivkonzepte der Kapitalgesellschaften, in blasser Blutleere dahinsiechten. Bereits nach den ersten gemeinsam verdrückten Veggie-Burgern veränderte sich etwas. Zuerst verschwanden die Krawatten. Was man nicht sehen konnte, war die Veränderung in den Köpfen. Die kam vielleicht auch mit den Besuchen in den Yoga-Stunden von Michi Kern. Ein unangenehmer Moment war es für viele Managerinnen und Manager, so erzählt man sich, als sie bemerkten, dass ihnen das Vorfahren mit dem großen dunklen Firmenwagen kein Glücksgefühl mehr verschaffte. Das war bereits, bevor flächendeckend Tempo 20 innerstädtisch eingeführt wurde. Am Ende der Transformation vieler Persönlichkeiten war es nur konsequent, dass die Immobilienwirtschaft heute offiziell als zwölfter Teilbereich der Kreativwirtschaft eingeordnet wird.

Egal ob Wohnen, Büro, Handel – oder wie inzwischen üblich alles zusammen: Gebäude werden heute nicht mehr nur genutzt, sondern sie werden bespielt und kuratiert. Ein entscheidender Meilenstein war sicher der „Plus-1-Beschluss“ kurz nach der Bundestagswahl im Jahr 2025. Lange ungelöste Probleme der Wohnungsnot, des Klimaschutzes und der Krise im Einzelhandel wurden mit einem einzigen Instrument gelöst. Wer seine Flächen im Erdgeschoss als öffentlichen Raum für sinnstiftende Nutzungen hergibt, erhält zusätzliches Baurecht nach oben. Ein Gesetz, das das Leben in den Städten auf ungeahnte Weise verbesserte. Der Großteil der ehemaligen Wettbüros und Handyläden war im Rahmen des Plus-1-Programms zu lebendigen Begegnungsorten geworden. Genossenschaftliche Lebensmittel-Projekte sind besonders verbreitet: In der Schillerstraße hat kürzlich eine Mitmach-Bäckerei eröffnet, wo an jedem Tag eine andere Gruppe aus der Nachbarschaft ihre Teigwaren in den Ofen schiebt. Am beliebtesten ist der Tag, an dem die türkischen Omas aus dem Viertel ihre Rezepte auspacken.

Beliebt ist auch die selbstverwaltete Bibliothek, die ohne Personal und Überwachung funktioniert und ein beliebter Lernort für Kinder und Jugendliche aus dem Quartier ist. Schon länger gibt es die Kunstgalerie von broke.today, die damals in der legendären Zwischennutzung Franzi an der Schwanthaler Straße 57 ihren Ursprung hatte und inzwischen eine Institution für regionale und unbekannte Künstler:innen ist. Mitmachen ist auch auf der Bühne Programm geworden: Darum hat sich auch der Urban Comedy Club, der 2022 in einer Zwischennutzung in dem ehemaligen Hertie-Komplex gegründet wurde, im Stadtteil etabliert. Das Konzept: Open Stage. Sympathische Offenheit und Vertrauen genießen auch die Nutzer:innen des Co-Working-Space in dem runden Dutzend Locations des Mucbook Clubhaus im Bahnhofsviertel – hier findet man weiterhin Raum, wo nicht nur gearbeitet wird, sondern wo Menschen zusammenkommen, die Ideen haben.

Aus der Gründerzeit der neuen Gemeinschaftsprojekte stammt auch die Initiative „Cowerken“. Die Schreiner Dennis und Ludwig hatten das Projekt 2022 in einer Zwischennutzung gegründet. Um die Lücke zwischen Repair-Cafés für Hobbybastler und den hochmodernen Maker-Spaces für die Produktion von Hightech-Prototypen zu schließen, sollte eine Werkstatt für Handwerker entstehen. Die Handwerker teilen sich die Maschinen, das Backoffice und das Marketing: So wurde Handarbeit wieder bezahlbar und kam zurück in die Stadt.

„Schlimmes kommt öfter und schnel­ler, als einem lieb ist. Aber die gu­ten Sach­en, die zie­hen sich wie die Warte­zeit im KVR.“

München 2040

Krankenkassen sprechen gerne von dem „Plus-1-Effekt“ der Erdgeschoss-Belebung: Durch die kreativen Angebote, den konsumfreien Aufenthalt und den neu entstandenen Gemeinsinn in den sogenannten „dritten Orten“ wuchs das Glück vieler Menschen. Die AOK meldete erst gestern wieder einen Rückgang von Depressionen, Übergewicht, häuslicher Gewalt und einen Anstieg der Geburtenrate.

Wobei man hier die Kausalität nicht so einfach nachweisen kann, seit das Fahrrad mit  Einführung von Tempo 20 (für Autos) zum beliebtesten Verkehrsmittel geworden ist. Unverhofft kam die Krise der „schienengebundenen“ Verkehrsmittel. Die Art und Weise, sich in großen Ansammlungen, dicht beieinander, nach einem festen Fahrplan auf unveränderbaren Routen zu bewegen, erschien jungen Menschen verblüffend anachronistisch. Die Generation, die mit dem Verfügbarkeits-Postulat von Tinder, Uber und Gorillas groß geworden ist, stellt sich nicht an eine Haltestelle, um minutenlang auf eine Tram oder U-Bahn zu warten. Außer dem eigenen Rad nutzen sie lieber die neuen autonomen Gondeln, die auf dem Screen der Windschutzscheibe während der Fahrt wahlweise Disney oder Netflix streamen. Immerhin werden die Gleise im Untergrund noch genutzt. Die App-gesteuerten Kapseln der Otto-Bahn sind hier zu Tausenden im Einsatz. Es hatte erstaunlich lange gedauert, die Stärke des Münchner Start-ups zu erkennen. Erst nachdem die 2022 beschlossene Otto-Bahn-Teststrecke in Taufkirchen fertig war, kam man auf die Idee, die U-Bahn-Züge durch Otto-Gondeln zu ersetzen, die von jedem User persönlich programmiert werden können, sodass man das Münchner U-Bahn-Netz beliebig kombinieren kann.

Die lahmgelegten U-Bahn-Züge kennen Sie ja alle von den „Kultur-Stationen“, die auf allen großen Plätzen Münchens den Menschen auch bei schlechtem Wetter einen Raum zum Zusammenkommen bieten. Ähnlich erging es den Trambahnen, die heute als Indoor-Kinderspielplätze zum Toben, Lesen und Basteln einladen. Und nur weil die Tram kaum mehr jemand nutzte, entstand auch Platz für den großen Park auf der Sonnenstraße. Der Effekt auf das Bahnhofsviertel war enorm. Dealer und Kleinkriminelle, die früher die engen Gassen des Viertels liebten, haben dem Viertel längst den Rücken gekehrt. Schließlich konnten sie ja von allen Dachgärten aus bei ihren Geschäften beobachtet werden. Und es waren zu viele Frauen und Kinder auf den Straßen unterwegs, seit die Autos so langsam fuhren und nicht mehr an der Oberfläche parkten.

So wie die Kurierfahrer mussten sich ja auch viele Polizist:innen und Verkehrsüberwacher:innen einen neuen Job suchen, seit die autonomen Fahrsysteme nicht nur Fahrtziel, sondern auch Geschwindigkeit und Parkplatzregeln von selbst einhalten. Als ich kürzlich die Weintrauben vor einem mit einer Rebe bewachsenen Parkverbotsschild pflückte, kam ich mit einem der sogenannten „Community-Manager“ ins Gespräch, der früher als Polizist gearbeitet hatte. Er betreut heute einige der hübsch eingerichteten U-Bahn-Züge am Nußbaumpark und betont, dass er jetzt im Grunde das mache, was sein Berufswunsch war: „Ich bin Freund und Helfer im Quartier.“

Manchmal hilft der Mann ohne Uniform auch beim Ernten auf den Dächern. Durch die Verbindungswege und Stege des Projekts „Erde über unseren Häuptern“ kann man von der Theresienhöhe bis zur Sonnenstraße laufen. Als der Bau der zweiten Ebene beschlossen wurde, hatte man noch gar nicht daran gedacht, welche Massen an regionalen Lebensmitteln dort oben produziert werden können. Es ging in erster Linie um Klimaanpassung. In wenigen Jahren konnte die Konstruktion zwischen Bayerstraße und Pettenkoferstraße entstehen, um Schatten zu spenden, die Luft zu verbessern und vor allem den Stadtraum zu kühlen.

Besonders beliebt sind natürlich die Sitzbänke, die sich durchgängig am Rande der Terrassen entlangziehen und durch die großen Solardächer vor Wind und Regen geschützt sind. „Volt-Veranda für alle“ war der Leitsatz der Initiative, die damals im Stadtrat die Mehrheit erreichte.

Die Umverteilung des öffentlichen Raums zugunsten der Menschen war ein wichtiger Effekt, um die Städte wieder attraktiv zu machen. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass in den Jahren der Pandemie die Menschen plötzlich alle aufs Land ziehen wollten. Zum Glück konnte im Jahr 2023 nicht weit entfernt vom Bahnhofsviertel ein Projekt auf den Weg gebracht werden, das heute bundesweit als Vorbild für Wohnen und Kreislaufwirtschaft gilt: Nachdem ein Abriss verhindert wurde, hat eine Genossenschaft das ehemalige Justizzentrum an der Nymphenburger Straße zu einem Wohnquartier umgebaut, das heute als Symbol für eine Stadtentwicklung gilt, die soziale, kulturelle und ökologische Bedürfnisse berücksichtigt. Kaum zu glauben, dass die Baubranche vor 40 Jahren noch für rund 40 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich war. Für acht Prozent des globalen CO₂-Ausstoßes war allein der Beton verantwortlich.

Mit dem neuen Gemeinschaftssinn haben die Menschen in der Region viel erreicht. Wenn ich jetzt so auf die im heißen Frühlingswind flatternden Fahnen am Stachus blicke, bin ich mir trotzdem nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war, nun auch noch das Wappentier Bayerns zu ersetzen. Man war der Meinung, der Löwe stehe für das überwundene Zeitalter des Raubtier-Kapitalismus. In der postfossilen Welt sollte uns ein friedliebendes, vegan lebendes Geschöpf repräsentieren, das die Vorteile der Urbanität zu schätzen wisse. Kurz gesagt: ein friedliebendes Tier, das das Leben in der Stadt sexy findet.

Mit Blick auf die überaus beeindruckende Reproduktionsrate mag die Stadtliebe des ausgewählten Tieres unbestritten korrekt sein. Aber rein gestalterisch macht eine graue Stadttaube als Wappentier nun einmal wirklich nicht viel her.

„Bereits nach den ers­ten ge­mein­sam ver­drückten Veggie-Burgern verän­derte sich etwas.“

München 2040

Marco Eisenack ist Unternehmer und Gründer des Münchner Magazins Mucbook. Mit seinen Mucbook-Clubhäusern betreibt er mit seinem Team temporäre Kreativräume überall in der Stadt.

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