Wir schreiben das Jahr 1998. Ich sitze in einem MD-80 von Alitalia und werde in Milano Linate landen. Ich komme aus Berlin-Tegel. Wir fliegen über eine Betonwüste, es sind kaum grüne Flächen zu erkennen. Ein paar Parks gibt es; aber zum Parco Lambro beispielsweise geht man nicht hin, der ist ein Drogenumschlagplatz. Sechs Jahre vorher hatte ich am Politecnico di Milano mein Architekturstudium abgeschlossen. Mailand ist eine Industriestadt. Ja, es ist auch die Hauptstadt der Mode und des Designs. Dies ist der Grund, warum ich dort studieren wollte. Eine schöne Stadt aber ist Mailand nicht.
Von der Grundanlage her ist Mailand eine monozentrale Stadt; man sieht es ganz gut von oben. Man erkennt die drei Straßenringe: die „Cerchia dei Navigli“, die „Circonvallazione Interna“ und die „Circonvallazione Esterna“.
Die Cerchia die Navigli läuft um das mittelalterliche Stadtzentrum herum. Die Circonvallazione Interna ist der innere Ring mit den Tramlinien 29 – 30, die Circonvallazione Esterna der äußere Ring mit den Oberleitungsbussen der Linien 90 – 91. Die Nummern definieren den Drehsinn. Über diese Nummern sind die Ringe bekannt. Alles gravitiert um das Zentrum mit dem gotischen Dom. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs definierte der äußere Ring die urbane Ausbreitung der Stadt. Diese „Circonvallazioni“ spürt man; als Student konnte man auf eine Wohnung knapp innerhalb oder knapp außerhalb der Linie 90 – 91 hoffen. Deutlich außerhalb der 90 – 91 war es nicht mehr schön. Dort spürte man: Hier endet die Stadt, und reine Arbeiterviertel mit Mietkasernen beginnen.
Lieblos. Unattraktiv. Hässlich. Die Zonierung, auch die soziale, war gnadenlos, noch unüberwindbarer als die Cerchia dei Navigli im Mittelalter, damals noch ein überflutbarer Verteidigungsgraben.
Monozentral – polyzentral. Die beiden Begriffe umreißen ein Spannungsfeld, das auch für Mailand relevant ist. Zuletzt hatte ich von Thomas Sevcik, Mitgründer des Strategie-Thinktanks arthesia, wieder gehört, dass die Großstädte in den Metropolregionen polyzentral werden müssen. Es geht ums Überleben. Um attraktiv zu bleiben, gilt es für die Metropolen, mehrere „Downtowns“ zu entwickeln. Die in der „Charta von Athen“ theoretisierte Stadt hat in diesem Sinne versagt. „Downtown“ steckt heute in der Krise, und zugleich brauchen wir mehr „Downtowns“. Das ist kein Paradox.
Machen wir einen Sprung ins Jahr 2023. Mailand hat eine unglaubliche Veränderung hinter sich. 25 Jahre später erkenne ich meine Stadt nicht mehr wieder. Es geschieht sehr viel, gerade im Bereich des äußeren Rings.
Im Quartiere „Isola“, der „Insel“, so genannt, weil sie von der Bahn lange vom Rest der Stadt abgeschnitten war, ist eine Ikone entstanden, der „Bosco Verticale“, der vertikale Wald von Stefano Boeri. Zwei Türme, die mit insgesamt 900 Bäumen begrünt worden sind. Vor dem Bosco „La Biblioteca degli Alberi“, die Bibliothek der Bäume, ein öffentlicher Park mit Kulturangeboten und Veranstaltungen. In der nahe liegenden Piazza Gae Aulenti finden wir den „Unicredit Tower“ von César Pelli, dem Architekten der „Petronas Towers“ in Kuala Lumpur. Der Corso Como, seit den 2000er Jahren eine Fußgängerzone, endet heute nicht mehr in einem „nonplace“, einem Un-Ort.
Szenenwechsel: Im alten Areal der Messe Milano ist ein Quartier mit 350.000 Quadratmetern Grundfläche und 170.000 Quadratmetern Grünfläche entstanden, der Parco Tre Torri. Autofrei. Verkehrswege und Parkplätze befinden sich im Untergrund. Dazu dreimal markante Architektur, der „Torre Isozaki“, der „Torre Hadid“ und der „Torre Libeskind“. Die letzten zwei Architekten sind Dekonstruktivisten. Zaha Hadid ist zu früh gestorben, aber ihr Büro plant weiter. Vor dreißig Jahren, als ich am Politecnico studierte, waren es noch Provokateure. Man konnte sich mit ihren Namen schmücken und das Establishment provozieren – wie bei meinem Staatsexamen, in dem ich mit meinem Entwurf Peter Eisenman imitieren wollte – und damit in der Tat mehr riskierte als notwendig. Heute stehen in Mailand Türme dieser Revolutionäre, etwas gezähmt zwar, aber immerhin.
Milano hört aber nicht auf, gibt sich keine Pause. Für die Winterolympiade 2026 wird ein Olympisches Dorf entwickelt. Ein Konversionsprojekt am „Scalo di Porta Romana“, dem ehemaligen Güterbahnhof im Süden. Das Projekt wird vom Architekturbüro SOM gemeinsam mit der COIMA SGR (Bosco Verticale), Covivio und der Prada Holding realisiert. Das erste Zeichen der Konversion war die Fondazione Prada. Eine ehemalige Spirituosendestillerie wurde von Rem Koolhaas und OMA in ein Museum und Kulturzentrum umgebaut. Das „Haunted House“ auf dem Gel.nde, ein altes Bestandsgebäude, wurde mit 3.000 Gramm Blattgold überzogen.
Als ich das erste Mal die neue Lage der Fondazione Prada wahrgenommen habe, hat es mich doch sehr verwundert. Sie liegt außerhalb des äußeren Rings in einem ehemaligen nonplace. Um Un-Orte zu transformieren, ist es wichtig, Wahrzeichen und Symbole zu schaffen. Man muss dorthin gehen wollen, um etwas zu bestaunen, sei es ein Gebäude aus dem Jahr 1910, mit Goldblatt überzogen, oder ein Hochhaus mit 900 Bäumen. Der Bosco ist ein Manifest für mehr Grün in der Stadt. Diese ist die einzige Möglichkeit, aus einem Un-Ort einen Ort zu schaffen. Wahrzeichen. Symbole. Landmarks.
Piazzale Loreto, direkt am äußeren Ring, in der Nähe des Politecnico, war für mich ein typischer Un-Ort. Dort wurde Mussolini kopfüber an einer Esso-Tankstelle aufgehängt. „Piazzale“ hat mit „Piazza“ nichts zu tun, zu groß, lieblos und durch den äußeren Ring durchgeschnitten. Es ist eine Kreuzung. Der Corso Buenos Aires beginnt dort. Auch dort startet gerade ein spannendes Transformationsprojekt. Ende 2023 beginnen die Bauarbeiten; es entsteht dort das Projekt „LOC -Loreto Open Community“. 9.000 m2 werden den Bürgern und der Stadt zurückgegeben. Die Landschaftsarchitekten von LAND haben es geplant, gemeinsam mit Nhood Italia, Metrogramma und mic-hub.
Kultur, Dienstleistungen, Bäume, Grünflächen, Wasserspiele und eine Piazza entstehen dort, als Ort des Zusammenkommens – und nicht mehr zum überqueren. Konversation geht aber auch ohne zu bauen. Nordöstlich vom Piazzale Loreto, außerhalb des .u.eren Ringes, finden wir jetzt das „NoLo“ – „North of Loreto“. Die Wortschöpfung ist die Kreation von drei Architekten, die sich spielerisch an SoHo und TriBeCa orientierten. Als informelles Place Branding gestartet, ist der Name NoLo seit 2019 offiziell von der Stadt ratifiziert worden. In einer eher tristen Wohngegend, geprägt durch Arbeiterwohnungen, ist ein Melting Pot entstanden, mit Kreativen, Hipsters, Bars und Cafés zum Ausgehen. Einst stigmatisiert wegen des hohen Ausländeranteils, ist dies heute seine Stärke geworden. Ein neues Quartier, ohne es bauen zu müssen. So einfach kann es auch gehen.
Mailand war mutig, hat sich erneuert – und macht es weiter. Die Stadt hat eine unglaubliche Dynamik bekommen. Aber: Es gibt auch soziale Kritik an diesen großen Projekten. Banken, Versicherungen, große Investoren waren die Hauptakteure dieser Veränderung. Auch der Bosco Verticale erntet Kritik: Die Wartung und Bewässerung der Bäume an der Fassade kosten pro Wohnung 1500 Euro im Monat. Im Bosco leben Fußballer, Schauspieler und Popstars. Nicht jeder kann es sich leisten, im Bosco zu wohnen. Auf der anderen Seite konnte man aus dem Projekt viel lernen. Momentan entstehen weitere vertikale Wälder – in Utrecht, Eindhoven, Tirana, Schanghai, Paris und vielen anderen Städten. Der erste Wald war mit den Kosten für Forschung und Entwicklung extrem belastet. Die Botanikerin Laura Gatti war ein Jahr lang damit beschäftigt, die geeigneten Pflanzen auszusuchen. Windkanalversuche waren notwendig. Zwei Jahre lang wurden die Bäume auf die Verpflanzung in die engen Tröge an der Fassade vorbereitet. Aus diesem Know-how ist der „Trudo Vertical Forest“ in Eindhoven entstanden; der erste vertikale Wald für den sozialen Wohnungsbau. So wird die Idee sozial und steht jedem zur Verfügung.
Die Transformation Mailands basiert auf einem Plan, dem „Piano di Governo del Territorio PGT“, dem Stadtentwicklungsplan 2030. Dieser regelt, wie per Stadtentwicklung die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede reduziert werden können und sich alle „Quartieri“, alle Stadtteile, entwickeln lassen. Mailand soll sozial und integrativ werden. Die Idee: eine vernetzte, attraktive, grüne, resiliente Stadt. Jeder der 88 Stadtteile soll eine eigene Identität bekommen.
Die Peripherien und die Quartiere stehen im Mittelpunkt. Die Erdgeschosse werden mit Nachbarschaftsläden und Dienstleistungen aufgewertet. Auf städtischen Flächen sollen Sozialwohnungen entstehen, bezahlbare Wohnungen für junge Familien. Verantwortlich ist Simona Collarini, die Leiterin der „Direktion für urbane Regeneration“. Wörter und Definitionen sind wichtig. Aus der Bezeichnung der Abteilung merkt man, wie ernst die Stadt es meint. Urbane Regeneration. Eigentümer von leer stehenden Gebäuden werden benachteiligt. Nach dem Artikel 11 des „Piano delle Regole“ sind Eigentümer von Immobilien, die seit mehr als 24 Monaten leer stehen, verpflichtet, einen Umsetzungsplan für eine Sanierung einzureichen, ansonsten droht der Abbruch auf Kosten des Eigentümers.
Das Beispiel Mailand zeigt: Eine ehemals graue und resignierte Stadt kann sich neu erfinden. Mailand war mutiger als beispielsweise München. „Meine“ zwei Städte sind sehr ähnlich und vergleichbar. Ich wünsche mir für München den Mut von Mailand. Zumindest ein bisschen.
Geboren wurde Marco Ulivieri im italienischen Bozen. Er studierte Architektur am Politecnico di Milano. Seit 1998 lebt er in München und ist seit 2020 Teamleiter Projektentwicklung bei e+k.