Happening Places: Ein wirksames Tool der Stadtgestaltung

Lissie Kieser ist ein Kreativposten in der Münchner Stadt­gesellschaft. Zusam­men mit Michi Kern und Gregor Wöltje initiiert sie Kreativ­projekte, die der Innenstadt neues Leben einhauchen. In diesem Gast­beitrag erläutert die studierte Kunst­historikerin, wie Orte geschaffen werden, die urbane Vita­lität erzeugen – „Happening Places“, wie sie es nennt.

Lissie Kieser

Die gängigen Diskurse über die Transformation der Innenstädte thematisieren mit Vorliebe den Wandel des stationären Handels. Dies liegt in einer Sichtweise von der Innenstadt als Shoppingmeile begründet, in die Menschen kommen, um zu konsumieren – und die danach möglichst schnell wieder verschwinden sollen. Dementsprechend defensiv äußert sich die Architektur der Innenstädte, sie bietet wenige Angebote zum Verweilen und Interagieren. Ich möchte fragen: Warum überhaupt sollte eine Stadtentwicklung der Gegenwart sich an dem Narrativ des Handlungsdrucks durch den sich vollziehenden Wandel des stationären Handels orientieren? Meine These: Diese Perspektive kann nicht Ausgangspunkt einer qualifizierten Betrachtung sein, denn der sich momentan vollziehende Paradigmenwechsel findet viel umfassender statt.

Wir erleben geradezu eine Renaissance des Städtischen: Eine gesellschaftliche Transformation findet statt, die den Menschen und seine vielfältigen Bedürfnisse und Fähigkeiten wieder in den Mittelpunkt stellt. Nicht nur das Narrativ des Handels und die damit verbundene Auffassung von Wertschöpfung stehen zur Disposition – wir erfahren einen Shift des Narratives der Arbeit an sich! Wohlstand ist in der Stadt der Zukunft kein Synonym mehr für Konsum. Wohlstand äußert sich heute in der lebenswerten Stadt der Zukunft in Form von qualitativ hochwertiger Freizeit. Der öffentliche Raum gelangt in der Stadt der Zukunft daher zu höchster Bedeutung, und zwar im Sinne von Freiräumen, Begegnungsorten, Orten des Verweilens, Orten der Interaktion und Partizipation, Orten der informellen Wissensvermittlung und interdisziplinären Wissenserzeugung. „Happening Places“, wie ich das nenne, sind dabei ein wirksames Tool zur Transformation des Stadtraums. Ich möchte nun ein paar Beispiele aus meiner eigenen Arbeit geben. Als Fazit möchte ich den Leserinnen und Lesern den Begriff „Stadtgestaltung“ mit auf den Weg geben: Stadtgestaltung ist die sinnvolle Ergänzung zur Stadtentwicklung. Denn im Unterschied zur Stadtentwicklung, die einen planerischen Prozess beschreibt, handelt es sich bei

Stadtgestaltung um einen schöpferischen Akt. Happening Places ermächtigen Menschen in ihrer einzigartigen Fähigkeit, schöpferisch zu agieren. Diese besteht darin, zu empfangen und zu lernen, Wissen zu transformieren und handelnd die Welt zu gestalten. Auf die urbane Gesellschaft angewendet, führt dies zum Prinzip der Kollaboration und der Co-Creation. Auf den öffentlichen Raum angewendet, führen Happening Places zur Ausbildung von öffentlichen Werten und zur Identifikation mit der lokalen Mikronachbarschaft. Happening Places zeigen sich hier in ihrer gemeinwohlorientierten Dimension, die aktuelle gesellschaftliche Problemstellungen lösbar werden lässt.

Was sind Happening Places, was zeichnet sie aus?

1. Empathie
Am Anfang eines jeden Happening Place steht Empathie. Empathie für die jeweilige Beschaffenheit des Ortes. Empathie für die Bedürfnisse und Bedarfe des spezifischen Kontexts.
2. Story
Jeder gute Happening Place lebt von einer guten Story. Die Story ist genauso wichtig wie der physische Happening Place selbst.
3. Co-Creation
Happening Places haben keine Gäste, sie haben Kollaborateure. Sie kreieren einen Rahmen für Interaktion durch Erleben, Kommunikation und Gestaltung. Sie fungieren wie eine Bühne, sie verleihen anderen Sichtbarkeit. Content wird zur wichtigsten Kategorie der Kommunikation.
4. Trial and Error
Happening Places sind Reallabore für die Transformation von Stadtraum. Sie etablieren eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit. Happening Places setzen auf Vertrauen statt Kontrolle, Fortschritt entsteht durch informelle Wissensvermittlung und organische Optimierung von Prozessen.
5. Tool
Happening Places sind Umsetzungs-Tools für die Transformation von Stadtraum. Sie nutzen hierbei Imperfektion als Anknüpfungspunkt. Sie nutzen das Zufallsmoment als Innovationsmoment. Sie nehmen den Menschen, das Individuum, als Blueprint für die Stadtgestaltung.
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Lovelace
Foto: Thomas Kiewning

The Lovelace

Kardinal-Faulhaber-Straße 1, Altstadt, München

2017 – 2019

Das Lovelace war eine einmalige Gelegenheit: Ein großer ungenutzter Raum mitten in München. Verwandelt in ein Hotel mit 30 Zimmern und einer Vielzahl öffentlicher Räume. 4800 Quadratmeter, auf denen spannende Menschen und spannende Ideen aufeinandertrafen: Pop und Politik, Kunst und Kommerz, Gesellschaft und Individuum. Das alles kam im Lovelace zusammen. Es war kein Hotel, sondern ein Happening. Das Programm war genauso wichtig wie die Zimmer. Das Lovelace hat durch Inhalte, Kommunikation und Gestaltung einen Rahmen geschaffen, der die Gäste anregte, selbst aktiv zu werden. Sie konnten das Lovelace als Bühne nutzen. Inspiration und Interaktion verbanden die Hotelgäste und das Münchner Publikum. Das Lovelace stand für echte Inhalte, nicht für Dekoration: anspruchsvoller Content auf allen Ebenen. Von den Veranstaltungen, Performances und Installationen bis hin zu den Kunstwerken und Büchern in den Zimmern folgte alles einem konzeptuellen roten Faden.

Sugar Mountain

Sugar Mountain

Helfenriederstraße 12, Obersendling, München

seit Juli 2021

Das ehemalige Katzenberger-Betonwerk wurde im Rahmen des Kunst- und Kulturprojekts „Sugar Mountain“ zur kreativen Destination. Die Annäherung von Kunst und Sport, von Kulturerleben und Verweilen macht es zu einem Begegnungsort für Münchner und Gäste aus aller Welt. In seinem Selbstverständnis als Happening Place funktioniert der Ort zum einen wie ein kreatives Experimentierfeld oder auch wie eine moderne Kunstfactory. Zum anderen steht Sugar Mountain durch eine dichte Programmgestaltung für eine feste Institution im Münchner Kulturleben. Das Angebot an urbanen Bewegungsflächen ist kostenfrei: Skatepark, Basketballplatz, Pingpong-Arena und Boulderwand sind immer zugänglich. Biergarten und Kiosk ergänzen die Infrastruktur – es ist ein Ort zum Verweilen und Freundetreffen! Sugar Mountain startete im Juli 2021 und hat eine geplante Laufzeit bis 2024. Aber auch danach soll hier das kulturelle Herz des neu entstehenden Quartiers weiterschlagen. Das Projekt ist in diesem Sinne langfristig und nachhaltig konzipiert.

Lovecraft
Foto: Thomas Mandl

Lovecraft

Karlsplatz 21–24, Altstadt, München

seit September 2023

Der ehemalige Galeria Kaufhof am Stachus in München wird ab September 2023 zum Social Hub und Cultural Warehouse. Auf Tausenden Quadratmetern werden alle acht Stockwerke des Gebäudes kreativ umgenutzt. So finden zahlreiche gemischte Nutzungen mit breitem Spektrum statt. An die Stelle des stationären Einzelhandels treten Konzepte wie ein Future Retail Store und ein zirkuläres Kaufhaus. Community-Flächen, Food Court und Meeting-Theater sind dauerhafte Angebote, die zum Verweilen einladen. Messen, Märkte und Ausstellungen sorgen für ein abwechslungsreiches Programm. Ergänzt wird die Bespielung des Ortes durch eine Vielzahl an kulturellen und kreativwirtschaftlichen Akteuren, die die großflächigen Räume für Aktivierungen und Veranstaltungen nutzen. Einen weiteren Schwerpunkt der Konzeption bildet die Ausrichtung auf soziokulturelle Interventionen. Dies wird vor allem am Beispiel der Bewegungsflächen deutlich: Flächen für Soccer, Pingpong, Skateboarding und Multi Ball werden auf zwei Etagen vollflächig integriert. Lovecraft möchte einen positiven Beitrag zur Weiterentwicklung der Stadtgesellschaft durch seine Tätigkeit und Wirksamkeit im Bereich der Stadtraumgestaltung leisten.

Lissie Kieser arbeitet seit zehn Jahren als Kreativdirektorin, Kuratorin und Projektmanagerin im Rahmen kreativer Projekte. Ihr Ziel ist es, durch ihre Arbeit im kulturellen und gestalterischen Bereich „einen positiven Beitrag für die Transformation der Stadt und der Stadtgesellschaft zu leisten“. Ihre Überzeugung: „Kultur ist mehr als Kunst, und allem wohnt eine soziale Dimension inne.“

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