Mobile Räume für identi­täts­starke Städte

Mobilität prägt unser Leben, ermöglicht den Austausch, stellt aber auch Beschränk­ungen dar. Doch urbane Kulturen sind ohne ein Verständnis für die jeweiligen Regime der Mobilität nicht zu verstehen. Eine subjektive Geschichte der Bewegung von Menschen im Stadtraum.

Lukas Götzelmann

Es ist der zweite Dezember 2023, und ich befinde mich auf dem Rückweg nach München, als im Radio von dem plötzlichen Wintereinbruch in Oberbayern berichtet wird. Stillstand bei der Bahn, eingestellter Flugverkehr am Flughafen München, und von Autofahrten wird polizeilich abgeraten… „Na spitze“, geht es mir durch den Kopf, und ich hoffe insgeheim, dass der Radiosprecher das tatsächliche Schneetreiben in medialer Manier überzeichnet, während, fast schon zynisch, die ersten Akkorde von „Highway to Hell“ erklingen. Unweigerlich muss ich an die eingeschränkten Reisemöglichkeiten in den Coronajahren denken und beginne zu sinnieren: schnelle Welt, kurzlebige Welt, mobile Welt. Kaum drei Jahre sind vergangen, seit alle Linienflüge gestrichen wurden, Zugreisen nur mit Sondergenehmigungen erlaubt waren und zu Heiligabend der Ärmelkanal abgeriegelt wurde. Und doch scheint vieles bereits in ferner Vergangenheit zu liegen. Verrückt, wie unser Alltag von einer funktionierenden Infrastruktur abhängt. Und noch verrückter, wie schnell wir uns im Chaos verlieren, wenn Teile dieser Struktur auch nur vorübergehend ausfallen. Wie groß kann eine soziale Gemeinschaft in der dauerhaften Autarkie und ohne Infrastruktur überhaupt wachsen? Ab welcher gesellschaftlichen Größenordnung bedarf es einer Straße, eines Hafens oder gar einer Handelsroute? Auch ohne anthro­pologische Vorkenntnisse wird man hier schnell zu dem Schluss kommen, dass die Zahl wohl recht klein ausfallen dürfte. Folglich gründet die Geschichte der gesellschaftlichen Agglomeration oft auf dem Konzept von Verkehrswegen und die Historie der Urbanität auf Entwicklungen der Mobilität. Man denke an den Anfang der Odyssee: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat …“

Mobilität schafft Unabhängigkeit, fördert die Bildung, bedarf aber auch einer gewissen Organisation und Koordination, um Irrfahrten wie die des armen Odysseus zu vermeiden. Würden wir uns in der „heiligen Stadt“ Troja zurechtfinden, wenn uns ein Dr. Brown wie bei „Zurück in die Zukunft“ mit in die Antike nehmen würde? Auf alle Fälle hätten wir Schwierigkeiten, mit unserem DeLorean DMC-12 die engen Handelsgassen zu befahren, welche maximal für Eselgespanne konzipiert waren. Eine Fahrt auf der berühmten Via Appia von Brindisi nach Rom ließe sich einige Jahrhunderte später sicherlich einfacher bestreiten. Aber wo könnte man in Rom im Zeitalter der Römischen Republik für ein kurzes Sightseeing parken?

Geht man mental durch die nächsten Epochen, wird man feststellen, dass die Städte in der Antike und im Mittelalter wohl in vielen Merkmalen identisch waren. Ein Marktplatz im Zentrum, Schotterstraßen oder Kopfsteinpflaster, gemischte Arbeits- und Wohnquartiere sowie eine Stadtmauer dürften vermutlich weitestgehend das urbane Bild geprägt haben. Später in der Neuzeit kamen auch Residenzstädte mit ihrer unverkennbaren Fächerstruktur hinzu, wobei diese sicherlich eher als Ausnahme, denn als Regel zu bewerten sind.

Die enge Verbindung zwischen Stadtentwicklung und Mobilität zeigt sich nicht nur in Rom, sondern auch an einem ganz anderen Ort: dem Heimatmuseum von Wolfratshausen. Hier kann man viel über die Flößerei lernen – und über ihren Einfluss auf die Stadtentwicklung. In Spitzenzeiten verkehrten hier rund 6.000 Flöße pro Jahr. Das hatte einen erheblichen Einfluss auf die Prosperität und Entwicklung der Stadt. Mit der Inbetriebnahme der Isartalbahn kam es allerdings zu einer Zäsur dieser Transportform und den damit verbundenen Wirtschaftszweigen. Überhaupt war die Eisenbahn sicherlich das, was man inzwischen einen Gamechanger nennt. Zum einen, weil sie zu einer erheblichen Reduktion der Reisezeiten und Distanzkosten gegenüber Reisen „auf Schusters Rappen“ oder mit Pferdekutschen geführt hat.

Und zum anderen, weil durch sie ein schematisches und flächendeckendes Verkehrssystem etabliert werden konnte. So sind sich Wirtschaftshistoriker weitestgehend einig, dass die Anfänge der industriellen Revolution sowie der Aufstieg der Schwer­industrie mit all ihren ökonomischen, aber auch gesellschaftlichen und politischen Folgen ohne die Eisenbahn nicht denkbar gewesen wären. Blickt man auf die teils heute noch existierenden, sehr pittoresken Bahnhöfe aus der Gründerzeit, so wird schnell deutlich, dass der sozioökonomische Umbruch im 18. und 19. Jahrhundert zugleich einen immensen Einfluss auf die Entwicklung unserer urbanen Strukturen hatte.

Statt einer gemischten Nutzung wurden nun Wohnquartiere und Arbeitsorte bewusst getrennt, um die Bewohner vor den Schornsteinindustrien und der hohen Luftbelastung zu schützen.

Dennoch waren die Lebensverhältnisse gerade für die Arbeiterklasse oftmals extrem prekär, wie man bei Charles Dickens nachlesen kann. Der rasante Zuzug in die Städte (auch aufgrund von Agrar­reformen) leitete eine Urbanisierungswelle ein, die viele Kommunen vor soziale Herausforderungen stellte. Die offenkundig gravierenden Unterschiede zwischen Villen- und Elendsvierteln in fast jeder größeren Stadt beeinflussten auch Philosophen wie Marx und Engels bei ihren systemkritischen Schriften. Die geschichtlichen Folgen ihrer Gedanken sind hinlänglich bekannt und studiert worden und haben mitunter auch zu einem stärkeren Zusammenschluss von Arbeitervereinen und Gewerkschaften geführt. Diese bestreiken heute in regelmäßigen Zyklen den Bahnverkehr, zum Leidwesen all jener, die kein Auto haben. Beim Stichwort Auto muss man konstatieren, dass der individualisierte Pkw-Verkehr zum nächsten Gamechanger im Transport- und Verkehrswesen wurde. Dabei prägt das Automobil unsere Städte bis heute in einem ganz erheblichen Maß. Obwohl das erste „Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb“, wie es Carl Benz patentieren ließ, wenig mit den heutigen Mercedes-Modellen zu tun hatte, wurde damit vor fast 140 Jahren der Grundstein für eine völlig neue Form des Zusammenlebens gesetzt.

So wurde es fortan für einen stetig wachsenden Teil der Gesellschaft mit dem eigenen Auto immer einfacher, auch weite Distanzen zielgerichtet zu überbrücken. Ein kollektives Gefühl der Unabhängigkeit lässt sich seit dem Ford-T-Modell, dem VW Käfer oder dem DDR-Kultauto „Trabi“ bis heute mit dem Auto in Verbindung bringen. Losgelöst von Fahrplänen und fern von den eigenen vier Wänden andere Orte zu bereisen oder auch zuweilen völlig spontan in der nächsten Großstadt einzukaufen, ist ein Privileg – eines, das sich erst mit dem Auto im 20. Jahrhundert für eine breite Bevölkerungsschicht einstellte.

Neben dem praktischen Aspekt wurde das Auto fortan aber auch zunehmend zu einem Statussymbol und Identifikationsgegenstand. Was wäre James Dean ohne den Porsche, 007 ohne den Aston Martin und Dustin Hoffman im Film „Reifeprüfung“ ohne seinen Alfa Romeo 1600 Spider? Kein Wunder also, dass sich der Pkw von Jahr zu Jahr einer zunehmenden Popularität erfreuen konnte. Waren 1950 in Deutschland noch weniger als eine Million Fahrzeuge registriert, so sind es heute fast 49 Millionen Pkw.

Die urbanen Folgen dieser Entwicklung sind mittlerweile omnipräsent und bieten Grundlagen für viele Diskussionen, nachdem unsere Städte in den vergangenen Jahrzehnten physisch und mental sehr stark um das Auto herum gebaut wurden. Wie emotional diese Debatte werden kann, zeigen die Protestaktionen der Letzten Generation, wenn Klimakleber auf Berufspendler treffen. Aber auch in den Stadtplanungsämtern und den kommunalen Verkehrsausschüssen geht es beim Thema Mobilitätswende zuweilen heiß her. Während manche autofreie Innenstädte fordern, wird der eigene Kleinwagen für andere fast zum sakralen Gegenstand.

Fakt ist natürlich, dass wir neue und kluge Lösungen brauchen – allein schon aus Gründen der effizienten Raumgestaltung und Ressourcennutzung. Bei einem Anteil von etwa 30 bis 40 Prozent Parkverkehr am gesamten urbanen Verkehrsaufkommen sind Radschnellwege, ein Ausbau des ÖPNV und Elektrobikes sicherlich Schritte in die richtige Richtung. Am Ende wird es aber mehr benötigen, um die Transformation im Verkehrswesen so zu gestalten, dass die Veränderungen auch nachhaltig von einer breiten Öffentlichkeit getragen werden. Hierbei wird es auch darauf ankommen, den städtischen und ländlichen Raum gleichermaßen zu berücksichtigen und die Vorteile von Sharing-Modellen, alternativen Antriebsformen und Plattformökonomie zu professionalisieren. Und wer weiß, vielleicht werden Stellplatzsatzungen bereits in wenigen Dekaden zum Relikt, während wir uns holografisch zu Geschäftsterminen treffen und durch autonome Drohnentaxis von A nach B bewegen. Solange James Bond nicht mit einem Lastenfahrrad auf Verbrecherjagd gehen muss, wäre ich damit einverstanden. Für die Metropolregion München werden sich mit der IBA in den kommenden Jahren zumindest vielfältige Chancen für neue Infrastrukturprojekte und innovative Mobilitätskonzepte ergeben. Dabei wird es sicherlich auch an der einen oder anderen Stelle Mut zu neuen Strukturen und Veränderungen brauchen. Aber wie es Franz Kafka einmal so passend formuliert haben soll, entstehen (neue) Wege ja dadurch, dass man sie geht.

Weniger pitto­resk, dafür nicht minder bedeut­sam ist in diesem Zusam­men­hang die Ent­stehungs­geschichte der Fabrik­städte.

Lukas Götzelmann ist promovierter Volkswirt sowie Referent der Geschäftsführung bei ehret+klein. Seine Dissertation schrieb er an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht im Bereich Immobilienökonomie.

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