Seltsame Dinge, Ecken. Anecken: schlecht. Ecken und Kanten haben: gut.
Niemand will in Ecken gestellt oder gedrängt werden. Womöglich muss man, um nicht in ihr zu landen, um die Ecke denken. Doch was ist mit den schönen Ecken?
Architekt:innen wollen doch gerade nicht um, sondern an die Ecke denken; schließlich ist Eckrandbebauung in der Regel besonders wichtig, dankbar und vielfältig. Das erlebt mein Büro derzeit wieder mit einem Projekt in der Hohen Straße in Köln, das wir zusammen mit ehret+klein entwerfen. Da gehört es eindeutig zu unserem gemeinsamen Ziel, diese Ecke so gut zu entwerfen, dass die Menschen sich freiwillig in sie stellen. Heißt Quartiersbildung nicht, schöne Ecken zu kreieren? Verfolgt Städtebau in toto nicht den Plan, die ganze Stadt in eine einzige schöne Ecke zu verwandeln – und damit die Idee der Ecke an sich quasi abzuschaffen?
In meinem Buch „Prolog“, dem Auftakt der Reihe „Der Nachhalt“, habe ich viel über Ecken nachgedacht. Genauer: über die drei Ecken, die das Nachhaltigkeitsdreieck bilden und mit „Ökologie“, „Ökonomie“ und „Soziales“ beschriftet sind. Ich habe nachgedacht über die Voraussetzungen, die es braucht, damit ich, während ich mich in diesem Raum bewege, in keine der Ecken gedrängt werde. Sondern wie ich, im Gegenteil, den größtmöglichen Abstand zu ihnen halte, sie nicht mehr als einzelne wahrnehme und sie so gefühlt abschaffen kann. Wer denselben Abstand zu allen drei Ecken hält, hält Balance und befindet sich im Zentrum. Dort will ich sein. Ich möchte unsere Architektur in keine Ecke stellen, sondern in den Mittelpunkt des Nachhaltigkeitsdreiecks, weil ich Nachhaltigkeit – echte, keine behauptete – nur dort verorte. Neben dem einfachen Nachhaltigkeitsdreieck gibt es auch das „integrierte“.
Das setzt sich aus neun Dreiecken zusammen, die für die einzelnen Nachhaltigkeitsaspekte beziehungsweise ihr Mischverhältnis stehen. In dem Zentrum, in dem sich alle neun Dreiecke treffen, stehen die Worte „sozial, ökologisch, ökonomisch“. Dazwischen ordnen sich die jeweiligen Mischungen entsprechend ihrer Position zu den Ecken ein. So entsteht ein Raster, eine Fläche mit wechselnden Schwerpunkten, auf der man sich und seine Architektur positionieren kann.
Vor dem „Prolog“ war mein Buch „Retail in Transition“ erschienen. Dieses dreht sich vornehmlich um die Innenstadt und verhandelt, allgemein gesprochen, städtebauliche Interdependenzen zwischen wirtschaftsbezogenen Aspekten und sozialen Aspekten. Wirtschaftliche Aspekte sind beispielsweise Einzelhandels- und Büroimmobilien. Die sozialen Aspekte beinhalten unter anderem, dass Büros im Sinne der „New Work“ umgebaut werden, dass die Arbeit im Büro stärker auf Begegnung und Austausch ausrichtet wird. Diese Immobilien sollen überdies für eine breitere Öffentlichkeit nutzbar werden und damit die soziokulturelle Revitalisierung unserer (Innen-)Städte ermöglichen beziehungsweise einleiten. Dazu haben wir im Buch ein paar Vorschläge gemacht, die sich, wieder allgemein gesprochen, an der alten Idee der europäischen Stadt orientieren. Die war nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie soziales Handeln und wirtschaftlichen Handel nie trennte; getauscht wurden nicht nur Waren, sondern auch Meinungen, Wissen, Anschauungen. Mischnutzung vorinstalliert: Die Menschen kamen wegen des Handels in die Stadt und machten sie zu kulturellen, gesellschaftlichen, religiösen Zentren.
Das Spielfeld von „Retail in Transition“ innerhalb des Nachhaltigkeitsdreiecks ist sozusagen das „sozial-ökonomisch“ beschriftete Binnen-Dreieck mittigrechts. Wie wäre es, wenn wir den Fokus nun eher auf das gegenüberliegende Spielfeld legten, auf „sozialökologisch“ – ohne aber das Bull’s Eye in der Mitte aus den Augen zu verlieren? Anders: Wie lassen sich gesellschaftliche und ökologische Desiderate kongruent machen? Im „Prolog“ waren mir dazu folgende Beispiele eingefallen:
„Wenn ich für mehr öffentliche Grünflächen in der Stadt sorge – auf dem Boden, dem Dach oder dazwischen –, verbessere ich die ökologische Situation (Minimierung von CO₂ und Hitze-Insel-Effekten; Verbesserung von Mikroklima, Luftqualität und Biodiversität). Zugleich dienen Grünflächen für Menschen als Parks, sie schaffen Öffentlichkeit, Begegnung, Erholung. Wenn ich im Sinne der Verkehrswende entwerfe, also zum Beispiel in der Innenstadt den Autoverkehr reduziere und oberirdische Stellplätze minimiere, geschieht dasselbe: Es ist gesellschaftsfördernd, weil ich Fläche für unterschiedlichste Formen von Öffentlichkeit gewinnen kann; es ist ökologisch wirksam, weil die Fläche zugleich begrünt werden kann.
Wenn ich eine Mischnutzung in die Städte bringe – so wie es die alte europäische Stadt immer getan hat! –, geschieht dasselbe: sozial, weil es mehr Begegnung und weniger Trennung gibt; ökologisch, weil die Emissionen des Pendel- oder Transportverkehrs reduziert werden.“ Natürlich ist das alles unoriginell, banal sogar. Mein alter Hut, der hat drei Ecken. Wir wissen doch, dass sich in der Nachhaltigkeit alles gegenseitig beeinflusst. Nur muss man es sich klarmachen. Und zu Ende denken: Das eine soll auch das andere sein. Diese Perspektive wird für uns alle in Zukunft wohl die wichtigste werden: im städtebaulich-architektonischen Denken soziale Nachhaltigkeit als ökologische begreifen und umgekehrt. Der vielleicht wichtigste Satz im „Prolog“ lautet: „Nachhaltiges Denken ist Kongruenzdenken.“
In diesem Denken für den Moment die Wirtschaft mal in die zweite Reihe zu stellen, um Raum für die Idee zu schaffen, dass Wertschöpfung, Mehrwert et cetera nicht mehr (nur) monetären Charakter hat – das, scheint mir, ist genau die Prämisse von Urban Matters #1 gewesen („Der neue Investor – Ökologie, Stadtkultur, Soziales: Wie die Real-Estate-Industrie sich neu erfindet“). Ganz schön mutig, ehret+klein!
Wir alle brauchen die Nachhaltigkeitswende. Ob wir sie alle wollen, ist eine andere Frage. Wenn wir es tun, müssen wir halt, sorry, wenden. Ob es eine 180-Grad-Wende sein muss/kann, ist noch unklar. Aber 90 müssten es wohl sein. Rechter Winkel. Echte Ecke. Geld muss weiterhin verdient werden, aber die Prämissen, unter denen das geschieht, werden sich ändern, ob wir wollen oder nicht.
Auch in Zukunft wird aus der Immobilienbranche keine Benefizveranstaltung. Doch das Paradigma der Flächennutzung in den Innenstädten steht schon zu lange ausschließlich in ein- und derselben Ecke. Raus da. Bald geht Gewinn anders. Der Geldfluss braucht mehr Kreativität sowie ein größeres und breiteres Bett, um nicht zu versiegen. Das Marktmodell ändert sich, also ändert sich das Geschäftsmodell. Für keinen Bereich gilt das stärker als für den Innenstadtbereich, der bislang, zumindest in den großen Städten, von Handel und Büro dominiert, (zu) wenig bewohnt wird und der Öffentlichkeit, abgesehen von Gastronomie, kaum Angebote macht. Sich neu zu erfinden ist insofern weniger mutig als vielmehr alternativlos. „Ökologie, Stadtkultur, Soziales“ zur Priorität zu machen bedeutet nicht, auf Profite zu verzichten. Es bedeutet, die Grundlagen dafür zu legen, sie auch in Zukunft machen zu können.
Der oben erwähnte sechsgeschossige Neubau an der Ecke Hohe Straße 134–136 kann die Sache in ein paar Aspekten beleuchten. Die Anlage hat eine großzügige Fassadenbegrünung und vereint Flächen für den Einzelhandel, Büros und Gastronomie in Mischnutzung. Alter Hut. Doch etwas ist anders: Auf jeder Etage sind 30 Prozent der Bürofläche so gestaltet, dass sie separat erschließ- und nutzbar sind. Es ist also keine Büro-, sondern eine Flexfläche. Unser Bauherr und wir können uns dort zum Beispiel eine Sprachschule vorstellen. Oder Yoga. Etwas öffentlich Wirksames, wie einen gemeinnützigen Verein. Wir finden schon die Richtigen. Ja, wir suchen selbst. Und könnten auch ganz anders suchen (lassen): Die Hohe Straße gehört regelmäßig zu den Top Fünf der meistfrequentierten Einkaufsstraßen des Landes.
Albert Einstein dachte mindestens um drei Ecken, bevor er die vierte Dimension (er-)fand: die Raumzeit. Die nehmen wir wörtlich und bauen eine weitere Dimension in unser Haus, die sich vor allem nach Feierabend manifestiert. Nach Feierabend, Moment … war da nicht was mit Innenstadtverödungsfurcht? Indem wir verschiedene Nutzungen am selben Ort von 7 bis 24 Uhr temporal schichten, schaffen wir Zeit-Räume und Raum-Zeiten. Eine Fläche, zwei oder mehr Nutzungen. Kongruenz. Zeitliche Koexistenz zwischen Handel, Büro und Allgemeinheit.
Haben wir Fläche verschwendet oder vielmehr maximiert? Dieselbe Frage stellt sich erneut, wenn man sich anschaut, wie viel Platz wir der Idee einge-räum-t haben, den öffentlichen Raum mit unserem Bau zu erweitern, statt zu verkleinern. Damit ist nicht nur die Lounge im ersten Geschoss gemeint oder die große grüne Dachterrasse mit Café. Sondern vor allem die großzügige Außentreppe dahin. Sie beginnt dort unten, an der Ecke, wo das Gebäude durch einen kleinen Rücksprung einen gedeckten, zurückhaltend pathetischen Vor- und Treppenbereich schafft. Mit anderen Worten: Die Ecke selbst wird zur freundlich-einladenden Eingangsgeste für die große grüne Dachterrasse mit Café. Räumliche Koexistenz im Raum zwischen Handel, Büro und Allgemeinheit. Und Photosynthese.
Super Geschäftsmodell, übrigens, Photosynthese: die Transformation von Ödnis (energiearme und anorganische Stoffe) in Leben (energiereiche und organische). Wirklich vorbildlich.