Die hohe Kunst des Verzichts

HUMAN MATTERS Kolumne von Jürgen Notz

Während ich darüber nachdenke, wo ich erstmals mit Lowtech in Berührung kam, fällt mir sofort ein Projekt aus meiner Studienzeit ein: Zusammen mit Architekturstudenten reisten wir nach Mexiko, um ein Kinderheim zu bauen, das wir hier geplant hatten. Für die Dämmung nutzten wir ein Stroh-Lehm-Gemisch – Rohmaterial, das vor Ort quasi kostenlos verfügbar war. Diese Bautechnik hat sich dort seit Jahrtausenden bewährt, nicht zuletzt wegen ihrer Erdbebensicherheit. „Kontextuelle Architektur“, habe ich mir gemerkt. Heutzutage erntet man in Europa viele Likes auf Social Media, wenn man von Lehmbauten erzählt. Aber warum eigentlich? Während alle hektisch nach der neuesten Technologie gieren, um noch smartere Gebäude und energiehungrige Datenzentren zu füttern, entdecken immer mehr Menschen die wahre Kunst: den Verzicht. Ja, richtig gelesen – Verzicht. Nicht als Notlösung, sondern als bewusste Entscheidung für das, was wirklich zählt. Mari Condo verdient sogar ihr Geld damit, indem sie Verzicht als neues Leistungsziel definiert. Kann der Immobilienbereich vielleicht etwas davon lernen?!

Früher dachte man, Fortschritt bedeute, immer mehr Technik in ein Gebäude zu quetschen. Klimaanlagen, die deinen Atem analysieren und die Luftfeuchtigkeit anpassen. Rollos, die sich nach deiner Laune richten – oder nach dem WLAN-Signal. Wer braucht das alles wirklich? Die wahre Frage ist: Warum sollte ich das wollen? Warum sollen wir, die Gesellschaft, das wollen? Eine kurze Internetrecherche gibt mir die Antwort: „Sich für den Einsatz von Lowtech auszusprechen, sei kein Kampf gegen Technik, sondern gegen die Vereinheitlichung der Lebensentwürfe“, sagte der Soziologe Jaques Ellul. Den Satz muss ich erst zwei Mal lesen. Er fühlt sich aber richtig an.

Lowtech zeigt uns, dass Gebäude ohne komplexe Hightech-Systeme genauso gut funktionieren können. Keine überdimensionierten Klimaanlagen, sondern natürliche Belüftung. Keine digitalen Steuerungen für jede Kleinigkeit, sondern kluge Architektur, die das Beste aus natürlichen Ressourcen herausholt. Der Verzicht auf überflüssige Technik ist dabei kein Rückschritt, sondern eine bewusste Entscheidung für Nachhaltigkeit und Einfachheit. Weniger Technik bedeutet auch weniger Abhängigkeit – und weniger Stress, wenn mal wieder ein System ausfällt.

Tatsache ist: Unsere Bauweise ist längst nicht so effizient, wie sie sein könnte. Die auf dem Papier errechneten Einsparungen werden in der Praxis oft nicht erreicht, weil zu komplexe Systeme die Energieverschwendung sogar erhöhen. Warum also nicht mit weniger mehr erreichen? Studien zeigen, dass einfache, natürlich belüftete Gebäude oft viel energieeffizienter sind als ihre technisch hochgerüsteten Pendants. Am Ende ist der Verzicht kein Verlust. Es ist die Chance, Dinge neu zu betrachten und sich wieder auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Also, warum nicht einmal auf den vermeintlichen Fortschritt verzichten? Der wahre Fortschritt liegt vielleicht genau darin.

Jürgen Notz ist Geschäftsführer von e+k upcycle (Sustainability Think Tank, Nachhaltigkeits- und Strategie­beratung der ehret+klein AG).

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