Blühende Landschaften*

Frischer Wind im Osten: Die neu gegründete Kleinstadtakademie in Wittenberge soll diese Kommunen vernetzen und aufzeigen, wie kluge Politik und Stadtentwicklung solche Trends zusätzlich fördern können. Wittenberge selbst macht vor, wie es geht.

* ein bisschen wenigstens

Ich bin eine klassische Rückkehrerin“, sagt Siw Foge. Gleich nach dem Abitur vor 30 Jahren hatte sie Wittenberge verlassen, um zu studieren. So wie sie hatte es in den 1990ern viele junge Menschen aus der Prignitz, im Norden Brandenburgs, in die großen Städte gezogen. Drei Fabriken mussten nach der Wende in Wittenberge schließen. „Für die Jüngeren bot die Region keine Perspektive“ erinnert sich Foge, die heute die im Ort ansässige „Kleinstadt Akademie“ leitet (siehe Kasten). Von 33.000 Einwohnern schrumpfte Wittenberge auf fast die Hälfte, und die Prognosen waren weiter schlecht. „Aber inzwischen ist der Sinkflug beendet und die Menschen kommen zurück.“

Woran das liegt, zeigt Rückkehrerin Foge bei einem Rundgang durch ihre alte und neue Heimatstadt. Viele Straßenzüge mit ihren prächtigen Gründerzeit- und Jugendstilhäusern sind aufwendig saniert, zahlreiche Baustellen künden von Aufbruch.

Viel gebaut wird direkt am Elbufer, wo hochwertige Wohnhäuser mit Blick aufs Wasser entstehen – nicht gerade preiswert, aber im Vergleich zu Neubauwohnungen flussabwärts in Hamburg wahre Schnäppchen. Besonders ins Auge springt ein Industriedenkmal: die historische Ölmühle, einer der Großbetriebe, die nach dem Ende der DDR abgewickelt wurden.

„Hier fand 2019 und 2020 der Summer of Pioneers statt“, sagt Siw Foge, „ein Projekt, das junge, kreative Großstädter nach Wittenberge locken und zu Kleinstädtern auf Zeit machen sollte“. Zu der Zeit baute ein mutiger Investor aus der Stadt die große Ölmühle gerade schrittweise zu einem Hotel um und wollte als nächstes eine Hotelbar einbauen. „Wir konnten uns einigen, den 35 ‚Pionieren‘ die Etage vorübergehend als kostenlosen Co-Working-Space zur Verfügung zu stellen.“ Für eine geringe Miete bekamen sie außerdem eigens eingerichtete WG-Zimmer oder Wohnungen von der Stadt. Heute, fünf Jahre später, genießen Barbesucher den Elbblick. Der Co-Working-Space ist vorläufig bei der städtischen Wirtschaftsförderung TGZ angesiedelt, und immerhin die Hälfte der Summer-of-Pioneers-Teilnehmer ist dauerhaft geblieben.

© dpa Picture Alliance

Einige betreiben heute ehrenamtlich den „Stadtsalon Safari“, einen offenen Raum für Kultur und Begegnung mitten in der Innenstadt, der aussieht wie ein Berliner Hipster-Café. In dem vorher leer stehenden Ladengeschäft gibt es nun Lesungen, Konzertabende, DJ-Sets und vieles andere, was eine normale Kleinstadt sonst eher nicht bietet. Im Sommer beleben verschiedene Veranstaltungen den Bismarckplatz vor dem Laden. Mit den „Elblandwerkern“ hat sich eine Community als Anlaufstelle für Neuankömmlinge und Umzugswillige gebildet.

„Die Pioniere von 2019/20 waren oft Kreativarbeiter – also Journalisten, Kulturschaffende, Marketing-Profis oder ähnliches“, sagt Siw Foge. „Die haben nicht nur für Aufmerksamkeit gesorgt, sondern sie verfügen über ein Netzwerk aus Gleichgesinnten, die oft ebenfalls ortsunabhängig arbeiten können“ – warum also nicht in Wittenberge, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg? Mit dem ICE dauert es eine Stunde in beide Metropolen. Tatsächlich zieht es immer mehr Menschen nach Wittenberge. Es sind oft junge Großstädter. „Zogen früher die Menschen aus Wittenberge in die Metropolen, ist es mittlerweile umgekehrt“, sagt Bürgermeister Oliver Hermann. Fast 1.000 Zuzüge konnte Wittenberge im vergangenen Jahr verzeichnen, denen knapp 700 Wegzüge gegenüberstehen. „Wittenberge erfreut sich zunehmender Beliebtheit – nicht zuletzt aufgrund der guten Verkehrsanbindung, der Natur und der im Vergleich zu Metropolregionen günstigeren Miet- und Grundstückspreise,“ so Hermann.

Zu den Neubürgern kommen auch Rückkehrerinnen wie Siw Foge, die es nach ihrem Studium und den ersten Berufserfahrungen in Dortmund wieder nach Wittenberge zog, wo sie heute an der Vernetzung von Kleinstädten arbeitet. Andere Neubürger oder Rückkehrer empfinden nach Jahren in Großstädten das Leben dort als zu anstrengend. Kleinstädte bieten oft auch alles fürs tägliche Leben, sind familienfreundlich und punkten mit kurzen Wegen.

Wie Zahlen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zeigen, profitieren in vielen Regionen vor allem Kleinstädte in der Nähe von Großstädten von „Überschwappeffekten“. Speziell in Süddeutschland wachsen aber auch Kleinstädte in strukturstarken ländlichen Regionen. Die jüngsten Zahlen stammen zwar noch aus der Zeit vor Corona, aber es gibt Anzeichen, dass „pendelbare“ Kleinstädte vom Trend zum digitalen Arbeiten im Homeoffice profitieren könnten. Auch Wittenberge will diese Entwicklung fördern, indem es beispielsweise den Co-Working-Space in den Bahnhof verlegt und daneben ein Fahrradparkhaus mit 300 Stellplätzen baut.

Die Möglichkeit dazu bietet die Landesgartenschau (LAGA), die 2027 als Großevent zusätzliche Impulse setzen soll. Überall in der Stadt verkünden Plakate doppelsinnig „Wittenberge blüht auf“, denn neben der üblichen Blumenschau und Aufwertung vorhandener Grünflächen soll die Landesgartenschau auch für Stadtentwicklungsprojekte wie den Umbau des Bahnhofs genutzt werden. Dazu hatte die Stadt 2018 über ihre Wohnungsbaugesellschaft den fast leer stehenden Bahnhof von der DB gekauft, um ihn für die erhofften LAGA-Besucher und die zunehmende Zahl an Pendlern herauszuputzen. Neben Ticket­verkauf und Gastronomie ziehen hier auch die Kleinstadt Akademie, ein Schulungszentrum, das Jobcenter und die Wirtschaftsförderung ein, die hier ein Gründerzentrum und eben den neuen Co-Working-­Space einrichtet.

So ein Bahnhofsumbau ist ein anspruchsvolles Projekt für eine kleine städtische Wohnungsbaugesellschaft. Rund 18 Millionen Euro kosten Sanierung und Umbau des Bahnhofs. Davon tragen die Stadt und ihre Wohnungsbaugesellschaft knapp fünf Millionen Euro, der größere Teil stammt aus verschiedenen Fördermitteln des Bundes und des Landes. „Eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft, die wichtige Gebäude kauft und entwickelt und ein kluger Mix aus Fördergeldern – das sind zwei wichtige Erfolgsfaktoren für den Aufschwung in Wittenberge“, erklärt Siw Foge.

Hinzu kommen eine vorausschauende Stadtentwicklungspolitik und die entschlossene Nutzung von Formaten und Programmen wie der Landesgartenschau oder dem Bundesprogramm „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ (ZIZ), durch das vier leer stehende Ladenflächen von der Stadt drei Jahre lang angemietet und für 1 Euro an neue Nutzer im Bereich Gesundheit, Kunst oder regionale Produkte untervermietet werden. Leerstand ist ein unübersehbares Problem in der Innenstadt – wie überall in Deutschland.

Kleinstadt Akademie

Neue Chancen für Kleinstädte werden in Wittenberg auch konzeptionell entwickelt. Die Stadt hatte sich erfolgreich am vom Bundesbauministerium ausgelobten Standort-Wettbewerb für die neue „,Kleinstadt Akademie” beworben. Seit Ende 2024 wird die Kleinstadt Akademie aufgebaut und zieht demnächst mit sechs Mitarbeitern in den Bahnhof. „,Wir verstehen uns als Plattform für den Erfahrungsaustausch, Wissenstransfer und die Vernetzung der Kleinstädte in Deutschland”, erklärt Leiterin Siw Foge. Rund 2.100 Städte in Deutschland gelten als Kleinstadt mit einer Einwohnerzahl zwischen 5.000 und 20.000. Insgesamt wohnen 24,4 Millionen Menschen in Kleinstädten – fast so viele wie in den 80 deutschen Großstädten; und doch werden sie oft „,übersehen”. Gerade politisch genießen Großstädte und auch der ländliche Raum mehr Aufmerksamkeit. Auch das will die Kleinstadt Akademie ändern. „,Was alle Kleinstädte gemeinsam haben, ist eine relativ schmale Verwaltungsstruktur”, sagt Siw Foge. Zugleich hätte sie aber „,dieselben großen Themen der Stadtentwicklung wie Großstädte – egal ob Wohnen, Mobilität, Wandel der Innenstädte oder Klimafolgenanpassung”. Dass neue Aufgaben, wie die Pflicht zur kommunalen Wärmeplanung, immer bei einer kleinen Zahl an Leuten landen, führe einerseits oft zu Kapazitätsengpässen, habe aber den Vorteil, dass es zwischen diesen Personen kurze Dienstwege gebe. „,Das ist auch die Idee hinter der Kleinstadt Akademie: Der praxisbezogene Erfahrungsaustausch”, so Foge. In einer Pilotphase hatte Wittenberge bereits mit anderen Kleinstädten Modellvorhaben zum Thema „,digitales Arbeiten” durchgeführt – etwa mit Dießen am Ammersee, wo viele Menschen zur Arbeit nach München pendeln. „,Das hat Auswirkungen auf das gemeinschaftliche und ehrenamtliche Leben in der Stadt”, sagt Foge. „,Ein interessanter Ansatz war es dort, Plätze im Dießener Co-Working-Space für Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr kostenfrei anzubieten, damit das Ehrenamt zu würdigen und den Feuerwehrleuten eine Alternative zum Pendeln zu ermöglichen.” Eines von Hunderten kleinen Beispielen, die Schule machen könnten, wenn sie nur bekannt und zugänglich gemacht werden. Dafür sorgt nun die Kleinstadt Akademie.

Rainer Müller hat in Dortmund und Venedig Raumplanung studiert und in Hamburg ein journalistisches Volontariat absolviert. Seither arbeitet er an der Schnittstelle von Stadtplanung, Architektur und Öffentlichkeitsarbeit als Pressesprecher für Institutionen wie die IBA Hamburg und IBA see sowie als freier Autor.

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