Unter­schätzte Zukunfts­räume

In der gegen­wärtigen Omni­krise stoßen traditionelle An­sätze der Stadt­planung an ihre Gren­zen. Während bisher vor allem Groß­städte und Metro­polen die Vor­stel­lungen urbaner Trans­forma­tionen do­mi­nieren, bleiben die Potenziale von Klein- und Mittel­städten noch häufig unbeachtet. Der Zukunfts­forscher Jonas Höhn zeigt: Diese Orte sind unver­zichtbar für die Ge­stal­tung lebens­werter Zu­künfte für uns alle.

Die Umbrüche des 21. Jahrhunderts konfrontieren Gesellschaften mit beispiellosen Herausforderungen. Wir befinden uns inmitten einer Omnikrise – einem vielschichtigen Komplex aus ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisenphänomenen – in der das vertraute Normal erodiert, ohne dass ein neues Normal bereits erkennbar ist.

Dieser tiefgreifende Epochenwandel markiert den Beginn historischer Transformationsprozesse. Transformationen sind Brennpunkte unserer Zeit, an deren Bruchlinien sich die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung grundlegend verändern und neue Vorstellungen von Zukunft entstehen. Man muss sie als lebendige Suchprozesse verstehen, in denen sich schon heute die Konturen der nächsten Gesellschaft abzeichnen. Doch Transformationen sind keine Einbahnstraßen. Sie verlaufen nie linear und vorherbestimmt, sondern sind von Natur aus offen, dynamisch, manchmal auch gegensätzlich und werden fortlaufend zivilgesellschaftlich verhandelt und gestaltet. Das Future:Project (siehe Abbildung) definiert sechs fundamentale Transformationen, die grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung einer lebenswerten Zukunft aufzeigen.

Co-Society: beschreibt eine zukunftsorientierte Vision der Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Zusammenarbeit, des Dialogs und der gemeinsamen Werte basiert.

Glocalisation: beschreibt eine neue Ära der Vernetzung, die lokale und globale Aspekte miteinander verbindet.

Conscious Economy: beschreibt eine neue Wirtschaftsordnung, die auf Sinnhaftigkeit, Menschlichkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist.

Human Digitality: beschreibt einen kollektiven Prozess der Kultivierung der Digitalisierung, der auf eine neue Balance zwischen Mensch und Maschine zielt.

Mindshift Revolution: beschreibt einen tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft, der durch die zunehmende Individualisierung, die Suche nach dem eigenen Ich und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit getrieben wird.

Eco Transition: beschreibt den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft mit neuen Formen des Wohlstands und des zirkulären Wirtschaftens.

Transformationsprozesse sind fest im urbanen Denken verwurzelt und werden meist mit Großstädten verknüpft. Metropolen wie Paris, Barcelona oder Singapur gelten gemeinhin als zentrale Schauplätze gesellschaftlicher Innovation und zukunftsfähiger Urbanität. Diese Städte implementieren nachhaltige Mobilitätsangebote, Superblocks oder Smart-City-Konzepte, die anderen Städten durchaus als Vorzeigeprojekte für einen gelungenen urbanen Wandel dienen können. Angesichts der erheblichen Ressourcenunterschiede zwischen Großstädten und kleineren Stadtstrukturen darf jedoch in Frage gestellt werden, wie realistisch eine Übertragung solch ambitionierter Projekte auf andere Maßstäbe und Kontexte tatsächlich ist. Die diskursive Dominanz der Großstädte verengt den Blick auf mögliche urbane Transformationen und blendet die spezifischen Herausforderungen und Potenziale klein- und mittelstädtischer urbaner Transformation aus.

Tatsächlich nehmen Klein- und Mittelstädte in Deutschland eine zentrale Rolle in der räumlichen Struktur unserer Gesellschaft ein. Laut dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) leben knapp zwei Drittel der Bevölkerung in den etwa 2.100 Kleinstädten (5.000 bis 20.000 Einwohnende) und 600 Mittelstädten (20.000 bis 100.000 Einwohnende). Nicht zuletzt in ländlichen Regionen wirken diese Städte über ihre eigentlichen Stadtgrenzen hinaus, indem sie als zentrale Orte die Daseinsvorsorge sichern und beispielsweise Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung oder kulturelle Angebote bereitstellen. Im Umfeld größerer Ballungszentren entlasten sie häufig die Siedlungsstruktur durch gut angebundene Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten.

In der Praxis sind diese kleineren Stadtstrukturen als Bindeglied zwischen peripheren und großstädtischen Räumen bei Weitem keine homogene Kategorie. Sie unterscheiden sich teils deutlich in ihrem Aufbau, ihrer Größe und Geschichte oder auch in ihren Funktionen und Herausforderungen. Einige Klein- und Mittelstädte sind durchaus prosperierende Wirtschaftsstandorte mit hoher Lebensqualität. Aber viele stehen auch vor ganz typischen Schwierigkeiten: vor begrenzten finanziellen und administrativen Ressourcen, demografischem Wandel, einer schleppend voranschreitenden Digitalisierung oder den komplexen Anforderungen der Klimaanpassung. Diese Herausforderungen erschweren die Umsetzung langfristiger und ganzheitlicher Transformationsstrategien.

In der Vielfalt und Flexibilität vieler Klein- und Mittelstädte liegen allerdings auch enorme Potenziale. Schon aufgrund ihrer charakteristischen Lebens-, Arbeits- und Versorgungsräume, in denen Transformationsprozesse auf ganz spezifische Weise sichtbar werden, verdienen sie eine besondere Aufmerksamkeit. Diese Stadttypen haben das Potenzial, Laboratorien der Glokalisierung zu werden, in denen lokale Strukturen und Traditionen mit globalen Ideen und Dynamiken verschmelzen – zum Beispiel dann, wenn bei der Gestaltung von Gebäuden und öffentlichen Plätzen neue Konzepte und regionaltypische Materialien und Designs kombiniert werden.

Den „perfekten“ Transformationsraum gibt es nicht. Jeder Ort – sei es eine Metropole, eine Kleinstadt oder ein Dorf – bringt ganz eigene Rahmenbedingungen mit, hat eigene Herausforderungen und eigene Zukunftspotenziale. Übergestülpte Raumkonzepte, die noch in der starren Dichotomie von „(Groß-)Stadt“ und „Land“ verankert sind, liefern daher immer weniger Antworten auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen, deren Lebensrealitäten sich gegenwärtig transformieren.

Kleinstädte in Deutschland
Kleinstädte sind Gemeinden oder Gemeindeverbände mit einer Gemeinde der Größe 5.000 bis 20.000 Einwohner oder mindestens grundzentraler Funktion mit mittelzentraler Teilfunktion.

Ein übergreifender Perspektiv­wechsel ist notwendig

Wo isolierte Betrachtungen einzelner Branchen, wie Gesundheit, Mobilität oder Handel, und Funktionen, wie Wohnen, Arbeiten oder Freizeit, an ihre Grenzen stoßen, braucht es ein ganzheitliches Verständnis von den grundlegenden Eigenschaften von Zukunftsräumen – den sogenannten „Transforming Spaces“. Der Begriff Transforming Spaces lässt sich auf doppelte Weise interpretieren. Er umfasst sowohl Räume, die von den großen Transformationen unserer Zeit entscheidend geprägt sind (Räume der Transformation), als auch Räume, die den gesellschaftlichen Wandel zeitgleich selbst anstoßen und mitgestalten (transformative Räume). Diese Zukunftsräume und ihre grundlegenden Eigenschaften lassen sich in vier Kategorien einteilen:

Adaptive Spaces zeichnen sich durch zirkuläre, dezentrale und regenerative Systeme aus, die eine hohe Anpassungsfähigkeit und Resi­lienz aufweisen. Dadurch sind diese Räume in der Lage, mit dem komplexen und dynamischen Wandel von Anforderungen und Bedürfnissen mitzuhalten.

→ In Fellbach bei Stuttgart entsteht zum Beispiel unter dem Titel „,Agriculture meets Manufacturing” ein solcher Raum, in dem landwirtschaftliche Flächen und das größte Gewerbegebiet der Stadt integrativ weiter­entwickelt werden. So entsteht eine lebenswerte und produktive Stadtlandschaft von morgen, die als lokaler Nahversorger die Erzeugung heimischer Produkte vor Ort erlebbar macht.

Spaces of Care nehmen ein besseres soziales Miteinander in den Blick und adressieren eine inklusive Gestaltung öffentlicher Begegnungsräume durch gemeinwohlorientierte, kollaborative Planungsprozesse oder kooperative Infrastrukturen.

→ Häufig zeigen bereits kleine Eingriffe positive Wirkung auf das Lebensgefühl. Beispielsweise verwandeln die modularen Möbel-Lösungen des Start-ups CITY DECKS in über 100 größeren und kleineren Städten in Deutschland Betonwüsten und Parkplätze zu angenehmen Verweil- und Begegnungsorten.

Abundant Spaces charakterisieren sich durch eine mehrdimensionale und multifunktionale Perspektive, die den Raum durch vielfache Mischnutzungen öffnet und somit Nutzungskonflikte überwindet.

→ Insbesondere in der Ausgestaltung urbaner Mobilität findet sich dieser Ansatz mittlerweile in unzähligen Projekten und Ideen wieder. Das Jungunternehmen urb-x etwa baut modulare Radhochbahnen aus Holz, die durch die Nutzung des vertikalen Raums bereits existierende Verkehrswege ergänzen und erweitern.

Obsolete Spaces sind jene Räume, die durch den gesellschaftlichen Wandel ihre zugedachte Funktion verlieren. Statt sie der Verwahrlosung zu überlassen, sucht dieses Raumkonzept nach neuen Anforderungen und Ideen, um obsolete Orte wieder in lebendige Räume zu transformieren.

→ Das Areal des Kühlhauses Görlitz galt beispielsweise über viele Jahre als eine solche Stadtruine. Heute kann man dieses Gelände dank der Arbeit kulturinteressierter Görlitzer als Zukunftsort mit vielfältigen Kultur- und Freizeitangeboten und Räumlichkeiten für die Kreativwirtschaft und das Handwerk bezeichnen.

Die Omnikrise fordert uns nicht nur zum Umdenken auf, sondern vor allem zum Handeln. Angesichts der tiefgreifenden Transformationsdynamiken unserer Zeit stehen Klein- und Mittelstädte dadurch an einem historischen Wendepunkt.

Statt Nischen­räume mit unter­schätzten Zukunfts­poten­zialen zu bleiben, können sie zu Schlüssel­akteuren werden.

Dabei sollten diese Städte sich nicht ausschließlich an den groß angelegten Transformationsprojekten internationaler Metropolen orientieren, sondern vielmehr eine eigene Vision entwickeln. Der transformative Erfolg von Klein- und Mittelstädten liegt in lokal wirksamen und flexiblen Projekten, die echte Prototypen für eine neue urbane Ära schaffen.

Dieses Heraustreten aus den Schatten der Großstädte und das Entwickeln eigener Zukunftspfade erfordert erheblichen Transformationsmut. Es verlangt nach einer geteilten Vision davon, welche Bedürfnisse Menschen in diesen Städten zukünftig haben werden, wie sie in der nächsten Gesellschaft leben wollen – und was wir schon heute dafür tun können.

Das focus:book „,Raum – Räume transformieren, Zukunft gestalten” vereint branchenübergreifende Perspektiven zahlreicher Expertinnen und Experten auf Transformationsräume.

Online-Bestellung

Jonas Höhn arbeitet als Zukunftsforscher für The Future:Project, das „,Netzwerk für transformative Trend- und Zukunftsforschung”. Der studierte Human­geograf untersucht glo­kale Transformationsprozesse und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft.

Weitere Beiträge

Die Mobilitätswende kommt – auch inländlichen Räumen. Nur läuft sie da etwas anders.
Das Unternehmen Movelo verleiht E-Bike-Flotten an Unternehmen. Die Mobilität innerhalb großer Organisationen wird so entschleunigt und nachhaltiger.
Nachhaltigkeitswende und Innenstadt: Kongruenzen in Raum und Zeit. Ein subjektiver Essay des Architekten Caspar Schmitz-Morkramer.
Die dänische Metropole ist dieses Jahr Welthauptstadt der Architektur – und Camilla van Deurs ihre erste baukulturelle Vertreterin. Im Interview erläutert sie, wie sie Kopenhagen weiterentwickeln will, warum zu viele Cafés in der Innenstadt auch nicht gut sind – und weshalb man auch von New York etwas lernen kann.