Auf dem Weg zur Wissensstadt

Seit Jahren trans­formiert Dieter Schwarz, Grün­der von Lidl und Kauf­land, seine Heimat­stadt Heil­bronn. Archi­tek­to­nische und städte­bau­liche Pro­jekte wie die Ex­peri­menta, der Bildungs­campus und ein ge­plantes Quartier für Künst­liche Intel­li­genz ver­wandeln die kleine Groß­stadt in einen Wissens­standort.

Alexander Russ

Heilbronn, das ist zum einen Auto- und Lebensmittelindustrie wie Audi und Knorr, zum anderen Neckar und Weinberge. Aufgrund der immer mal wieder hohen Kriminalitätsrate wird die nahe Stuttgart gelegene Stadt mit ihren circa 130.000 Einwohnern von manchen auch Heilbronx genannt. Dabei ist sie seit Jahren vor allem eins: Dieter Schwarz. Der Gründer von Lidl und Kaufland prägt die Entwicklung und Identität seiner Geburtsstadt wie kein anderer. Von den Medien wird der Milliardär gerne als Phantom bezeichnet, weil es kaum öffentliche Fotos von ihm gibt. Und auch wenn der Mensch unsichtbar bleibt: seine Bauten und Projekte sind es nicht. Entsprechend schwingt das Pendel zwischen Dankbarkeit und Kritik hin und her. Fest steht: Dieter Schwarz ist die treibende Kraft hinter einer Transformation, die sich in Heilbronn seit den Nullerjahren vollzieht.

Wachstum und Wiederaufbau

Die Biografie von Dieter Schwarz liest sich wie eine deutsche Wirtschaftswundergeschichte: Die vom Vater ab 1930 betriebene Südfrüchtehandlung A. Lidl & Co. baut er nach dem Krieg zu einer milliardenschweren Unternehmensgruppe auf. 1973 eröffnet die erste Lidl-Filiale in Ludwigshafen und 1984 der erste Kaufland in Neckarsulm. Nach dem Tod des Vaters führt er ab 1977 die Geschäfte allein weiter und formt ein Unternehmen mit derzeit 575.000 Mitarbeitern in 32 Ländern und einem Gesamtumsatz von 16,2 Milliarden Euro. Das Wachstum korrespondiert mit dem Wiederaufbau von Heilbronn, das bei einem englischen Fliegerangriff im Zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstört wurde. Nach dem Krieg entstehen neue Wohnviertel, die Stadt dehnt sich aus. Zu Beginn der 1970er-Jahre knackt Heilbronn die 100.000-Einwohner-Marke und wird zur Großstadt mit Fußgängerzone, Stadttheater und Kulturzentrum. Seit 2020 darf sich Heilbronn auch als Universitätsstadt bezeichnen – und das hat vor allem mit Dieter Schwarz zu tun.

Experimenta Museum, Heilbronn, Foto: Francesco Carovillano / HUBER IMAGES

Von der Industrie- zur Wissensstadt

Seit Jahren investiert der Milliardär mit seiner Dieter Schwarz Stiftung in verschiedene Bildungs- und Forschungseinrichtungen, die sich im Gegenzug in Heilbronn ansiedeln. Das sind zum Beispiel die Duale Hochschule Baden-Württemberg, ein Fraunhofer-Institut, die Bildungsakademie aim oder das Ferdinand-Steinbeis-Institut. Mittlerweile haben hier auch renommierte Universitäten wie die ETH Zürich und die Technische Universität München Dependancen eröffnet. Ab 2010 beginnt die Dieter Schwarz Stiftung, ein brachliegendes Gewerbegelände im Norden der Innenstadt zu entwickeln. Hier soll ein Bildungscampus für insgesamt 10.000 Studierende entstehen. Für die Umsetzung zeichnet das Architekturbüro Auer Weber verantwortlich, das zusammen mit dem Ingenierbüro schlaich bergermann partner verschiedene Instituts- und Verwaltungsgebäude, eine Bibliothek und eine Mensa umsetzt. Zehn Jahre dauert das Ganze, aber Dieter Schwarz ist mit seiner Heimatstadt noch lange nicht fertig.

Südlich vom Bildungscampus entsteht ein Museumsbau inmitten der Innenstadt. Er dient als Erweiterung des Wissenschaftszentrums Experimenta, das seit 2009 in einem ehemaligen Ölsaatenspeicher aus den 1930ern direkt daneben untergebracht ist. Mit einer Fläche von 25.000 Quadratmeter ist der 2019 fertig gestellte Neubau Deutschlands größtes Science Center. Parallel dazu wird die Bundesgartenschau in Heilbronn auf dem Gelände des angrenzenden Neckarbogens eröffnet. Hier hat die Stadt ein ehemaliges Areal der Deutschen Bahn erworben, das sich in den nächsten Jahren in ein durchmischtes Quartier mit 3.500 Bewohnern und 1.000 Arbeitnehmern verwandeln soll. Die Experimenta ist eine Landmarke für den neuen Stadtteil, eine Art Elbphilharmonie für Heilbronn. Allerdings geht es hier nicht um musische Dinge, sondern um wissenschaftliche Phänomene, die Kindern, Jugendlichen und Eltern spielerisch nahegebracht werden sollen. Dabei ist der Neubau mit seinem experimentellen Tragwerk selbst schon ein Ausstellungsexponat. Entworfen wurde das spektakuläre Gebäude vom Berliner Architekturbüro Sauerbruch Hutton, Bauherr ist die Dieter Schwarz Stiftung. Wie eine Stadtkrone thront es direkt am Neckar und schraubt sich als räumliche Spirale pentagonförmig in den Himmel.

Menschliche und künstliche Intelligenz

Beim Erkunden bietet die Experimenta verschiedene Ausblicke auf die Stadt und die Umgebung. Wer von hier aus nicht nur nach Nordwesten, sondern in die Zukunft schaut, könnte irgendwann das nächste große Projekt von Dieter Schwarz am Horizont erblicken: den „Innovationspark Künstliche Intelligenz“ oder „Innovation Park Artificial Intelligence“ (IPAI). Hier plant der Milliardär laut Homepage der Stadt Heilbronn „das größte Ökosystem für Künstliche Intelligenz (KI) in Europa“. Verschiedene Unternehmen, Start-ups, aber auch der öffentliche Sektor sollen sich auf dem Areal ansiedeln, um an KI-basierten Softwareprodukten und -lösungen zu arbeiten. Momentan befindet sich der IPAI noch im Zukunftspark Wohlgelegen, der von der Stadtsiedlung Heilbronn GmbH entwickelt wird.

Der Standort des neuen KI-Campus wird nun deutlich mehr Platz bieten. Gleichzeitig bildet er eine städtebauliche Fortführung von Zukunftspark und Bildungscampus nach Norden. Vorgesehen ist das Areal Steinäcker, das momentan noch landwirtschaftlich genutzt wird. Im Norden verläuft die A6, im Westen und Osten grenzen Gewerbegebiete an und im Süden der Stadtteil Neckargartach. Noch in diesem Jahr soll Baubeginn sein, dann wird sich das 23 Hektar große Gelände nach und nach in ein neues Quartier für 5.000 Beschäftigte verwandeln. Das Projekt geht auf eine Zusammenarbeit der Stadt Heilbronn, der Stadtsiedlung Heilbronn GmbH, der Schwarz Gruppe und der Dieter Schwarz Stiftung zurück. Unterstützung gibt es vom Land Baden-Württemberg mit bis zu 50 Millionen Euro Anschubfinanzierung. Die andere Hälfte übernimmt Dieter Schwarz, der mit seinem Risikokapitalfond D11Z.Ventures mittlerweile auch in Start-ups investiert, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen.

Der Masterplan für den neuen KI-Campus stammt vom niederländischen Architekturbüro MVRDV, das sich 2023 in einem europaweiten Wettbewerb gegen renommierte Kollegen wie Herzog & de Meuron und OMA Office for Metropolitan Architecture durchsetzen konnte. Wie beim Apple Park in Cupertino von Foster + Partners wurde hier eine Kreisform gewählt, die sich in Heilbronn allerdings nicht auf ein Gebäude beschränkt, sondern als städtebauliche Grundstruktur für das ganze Quartier dient. Als Begründung geben die Architekten einen hohen Wiedererkennungswert an, der dem IPAI zu architektonischem Glanz verhelfen soll. Geplant ist eine Mischnutzung: Neben Büro- und Laborgebäuden soll es auch Wohnhäuser, Kita-Einrichtungen und Gastronomieangebote geben. Zudem ist eine modulare Bauweise vorgesehen, um das Vorhaben schnell und effizient zu verwirklichen. In diesem Jahr wird Schwarz 86 Jahre alt. Es dürfte ihn freuen mitzuverfolgen, wie sein Geburtsort sich ein Stück weit zum deutschen Silicon Valley aufschwingt.

Alexander Russ arbeitet als freier Journalist und lebt in München. Er war in verschiedenen Architekturbüros und als Redakteur bei Baumeister, Topos und Stylepark tätig. Neben Architekturkritiken schreibt er über Stadtplanung, Landschaftsarchitektur, Nachhaltiges Planen und Bauen, Mobilitätsthemen und Digitales Entwerfen.

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