Zwischen Ludwig und Lochmann­haus

Konzipiert und produziert wird die urban matters in Starn­berg. Grund genug für uns, einen Blick vor die eigene Haus­tür zu werfen: Welche Heraus­forde­rungen stellen sich einer wohl­haben­den Kommune, die aber im Einfluss­bereich Münchens steht? Wie lässt sich städt­ische Iden­tität schaffen? Und ab wann wird die schöne Natur zum Hemm­schuh für Inno­vation? Darüber sprachen wir mit Benjamin Tillig, dem Leiter des Museums Starnbergs.

Benjamin Tillig

       Benjamin, als Du die Leitung des Museums übernommen hast – was war für Dich die größte Überraschung in der Stadt?

Ich bin 2019 nach Starnberg gekommen und war sehr beeindruckt davon, wie viele Menschen hier und in der unmittelbaren Region Kultur gestalten und leben. Das geschieht mit großem Einsatz und auf einem Niveau, das sich vor der Großstadt nicht verstecken muss.

Das Engagement ging und geht vor allem von einzelnen wunderbaren Menschen aus, mit jeweils eigenen Publikumskreisen. Dieses Nebeneinander habe ich mit sehr viel Freude verbunden und verwoben, wo es ging, um so das Museum zu einem offenen und zentralen Ort der Stadtkultur zu entwickeln, der es zuvor noch nicht war.

       Und ist das gelungen?

Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Das Museum erlebt gerade einen Imagewandel hin zu einem wirklich lebendigen Ort. Wir konnten neue Formate, Veranstaltungen und Ausstellungsreihen entwickeln, die ganz gezielt auf lokale und regionale Kollaboration und Vernetzung setzen.

       Kannst du hier ein Beispiel nennen?

Ein gutes Beispiel ist die Ausstellungsreihe „Schaukasten 4“. Sie findet statt in einem Möbelstück, einer Vitrine aus dem Jahr 1913. Sie ist die letzte Zeugin der Erstausstattung des Museums.

Eine historische Beschriftung weißt sie noch immer aus als den „Schaukasten 4“.

Da das historische Möbel sich nicht mehr recht in die aktuelle Gestaltung einpasst, haben wir es freigestellt und zum Ausstellungsraum erklärt. Ich habe ausgewählte Protagonistinnen der Starnberger Kulturszene gebeten ein Programm für den „Schaukasten 4“ zu kuratieren: jeden Monat neu, immer mit Bezug zur Region, stets Gegenwartskunst.

Der Untertitel der Reihe beschreibt es „Gegenwartskunst im Heimatmuseum“ und das ist nun wahrlich nicht selbstverständlich. Der „Schaukasten 4“ verknüpft all die wunderbaren, kulturell und künstlerisch tätigen Menschen der Region und öffnet ihnen das Museum als Ort. Für mich eine große Freude und für das Museum ein großer Erfolg mit schon 24 Ausstellungen inzwischen.

      Die Idee, ein Museum als Zentrum für die Kulturszene zu definieren, könnte auch in anderen Städten funktionieren. Schließlich ist das Auseinanderfallen der Gesellschaft ein übergreifendes Thema. 

Ja, das ist sinnvoll und notwendig – schließlich sind Museen öffentliche Institutionen. Offenheit gegenüber der Gesellschaft ist eine unserer Kernaufgaben. Dabei geht es ganz klar um alle interessierten Menschen, auch jenseits der sogenannten Kulturszene. Nun stehen wir in Starnberg zudem vor der Herausforderung der nahen Metropole München. Starnberg ist historisch stark von der Nähe zu München geprägt. Das begann mit den bayerischen Fürsten und Königen, setzte sich mit den Sommerfrischlern fort und ist in einigen Bereichen noch immer so.

Viele kulturell interessierte Menschen aus Starnberg orientieren sich nach München, haben ein Abo der bayerischen Staatsoper, eine Mitgliedschaft im Freundeskreis des Volkstheaters oder eine Jahreskarte für die Städtische Galerie im Lenbachhaus. Das ist wunderbar, macht es aber dem Museum Starnberger See nicht immer leicht.

      Nach München gelangt man in weniger als 30 Minuten, ob mit der Regionalbahn oder dem Auto. Also ist die Verkehrsanbindung paradoxerweise ein Problem?

Ja, einerseits, andererseits erschließt es dem Museum das Publikum der Großstadt. So haben wir von der Nähe besonders im letzten Jahr stark profitiert, als wir in der Ausstellung „Oskar Maria Graf – Dichter und Antifaschist vom Starnberger See“ Tausende Münchner Gäste begrüßen konnten.

Die Nähe zu München, der wunderschöne See, die herrliche Natur und der beeindrucke Blick auf das Alpenpanorama sind natürlich Gründe am Starnberger See zu leben. Neben aller Naturschönheit und verkehrsgünstigen Lage ist hier noch viel mehr. Mir ist es wichtig, das gesellschaftliche Leben vor Ort zu stärken. Menschen einzubeziehen, die neu hier sind, ebenso wie jene, die seit Generationen hier leben.

      Wie prägt denn das hohe Preisniveau für Immobilien in Starnberg das öffentliche Leben und euer Publikum?

Auf unser Publikum wirkt sich das tatsächlich gar nicht aus. Gesellschaftlich glaube ich, ist es bedeutsam über die sehr hohe Wertschätzung für privaten Raum den öffentlichen Raum nicht zu vergessen.

       Starnberg hat ja auch kein klassisches Stadtzentrum.

Tatsächlich ist die Stadt Starnberg historisch aus verschiedenen Hofstellen gewachsen und nicht um einen alten Marktplatz herum. Einen Siedlungsursprung hat die Stadt natürlich dennoch und der liegt genau beim heutigen Museum. Bei Ausgrabungen direkt neben dem heutigen Museumsneubau wurden Funde sichergestellt, die bis ins 7. Jahrhundert zurückgehen. Hier war einmal eine Kirche samt Hofstelle – ein Zentrum gesellschaftlicher Entwicklung.

      Zu einem solchen Zentrum wollt Ihr nun wieder werden. Spielt die Stadtöffentlichkeit da mit?

Zunehmend ja. Das begann interessanterweise ganz besonders intensiv, als im Zuge der aktuellen finanziellen Krise der Stadt die Diskussion aufkam, ob es das Museum überhaupt noch braucht. Der Freundeskreis des Museums hat es geschafft, die Krise in einen Höhenflug zu verwandeln. Die Mitgliederzahlen haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt.

Ausstellungen und Veranstaltungen sind voll oder gänzlich ausverkauft.

Es wächst ein Bewusstsein für das Museum und eine Verbundenheit untereinander über den Ort. Zugleich erhalten wir dringend nötige finanzielle Unterstützung in Form von Spenden. Das ist großartig.

      Was sind Deine Pläne auf dem weiteren Weg von hier?

Grundsätzlich geht es um zwei Pfade, die wir anlegen und gehen: Der erste führt zu vorhandenen Themen, zu dem was schon da ist, zu Lokalem oder Regionalem. Das gilt es aufzuarbeiten und zu vermitteln, klassische Museumsarbeit. Der zweite Pfad führt nach außen. Da geht es darum, mit besonderen Projekten und Ausstellungen einen Blick über das Lokale und Regionale hinaus zu werfen, um aktuelle Fragestellungen und Diskurse als Impulse in die Stadt einzubringen.

      Und was bedeutet das konkret?

Nun, im ersten Pfad ist unser ganz großes Vorhaben eine Ausstellung über König Ludwig II. Wir wollen die letzten Tage im Leben des Märchenkönigs nacherzählen. Ein weltbekannter Mythos und lokaler True-Crime-Fall in gewisser Weise.

      Und Ihr gebt die Antwort, wie der König ums Leben kam?

Wir berichten was gesichert geschehen ist. Vermutungen oder gar Verschwörungstheorien sind nicht unser Metier. Im Gegenteil, besonders Museen sind im Kern dem Faktischen verpflichtet. Sie nutzen Objekte als Ausgangspunkt, nicht Thesen oder Beweisführungen. Eine bedeutsame Institution in einer Zeit, in der Fakten verteidigt werden müssen.

      Die Ausstellung klingt spannend, aber auch überraschend: eine Reflexion über Wahrheit ausgerechnet bei einem Thema, wo die Wahrheit – wie kam der König ums Leben – eben nicht eindeutig bekannt ist

Aber genau das ist doch interessant. Es gibt wirklich viele Recherchen zu diesem Thema und diese ergeben ein recht klares Bild. Darüber hinaus werden wir mit einem letzten Rest an Unsi<cherheit leben müssen. Es ist ohnehin gut, wenn wir uns darin üben, scheinbar einfachen Lösungen zu misstrauen – besonders in dieser Zeit und dieser Welt.

      Eine politische Frage …

… vielleicht auch. Vor allem aber eine wissenschaftliche und gesellschaftliche. In einer weiteren Ausstellung dieses Jahr werden wir eine Malerin vorstellen, Eva Roemer. Sie hinterließ wunderschöne Farbholzschnitte, die fast schon japanisch wirken. Roemer stammte aus der Familie des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sie überlebte als Jüdin in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft die NS-Zeit in ihrem Haus in Kempfenhausen. Wie ihr das gelang, wissen wir noch nicht. Was wir herausfinden, wird neben den Kunstwerken in die Ausstellung einfließen.

      Klingt nach großer Vielfalt.

Vielfalt ist wichtig. Ein Museum muss nah an die Menschen heran. Es muss Angebote machen, Bekanntes und Neues verbinden. Dabei sind wir bei Weitem nicht nur Bildungsinstitution, sondern auch Freizeitort und Reflektionsraum. Wir liefern die Möglichkeit der Identifikation und Diskussion und sind für manche auch Ort der Nostalgie. Das ist alles möglich, und jede dieser Nutzungen ist richtig.

       Was können andere Gemeinden ähnlicher Größe von Starnberg lernen?

Starnberg legt großen Wert auf Historisches. Viele denkmalgeschützte Objekte befinden sich in kommunalem Besitz. Es gibt geführte Spaziergänge und einen wunderbaren Audio­guide durch die Stadt. Natürlich ist die Frage, wie sich historische Bauten mit konkreter Nutzung aktivieren und erhalten lassen, schwierig und auch in Starnberg eine Herausforderung.

       Und wo muss Starnberg besser werden?

Es wäre wunderbar, wenn es der Stadt und der Stadtgesellschaft gelänge, aus einer mitunter defensiven Bedrängnislage in ein aktives Gestalten zu kommen. Wir haben viel Potenzial, das wir aktuell noch nicht nutzen können. Starnberg hat so viel mehr zu bieten als den See.

       Das gilt auch für das bauliche Erbe rund um den See. Neben Gebäuden vom Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es viele spannende Projekte aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Ein Thema für Euch?

Absolut. Ich trage schon seit Längerem die Idee einer Ausstellung zu den Häusern des Künstlers Rupprecht Geiger am Starnberger See mit mir herum. Geiger ist vor allem als Maler und Bildhauer bekannt, war aber per Ausbildung zunächst Architekt und hat einige interessante Gebäude rund um den See realisiert.

       Mit einem anderen Geiger, dem Architekten Johannes Geiger, führte ich kürzlich ein Gespräch. Es ging ebenfalls um die 1960er, den Mut, aber auch die Schwierigkeit, hier modern und nicht traditionalistisch zu bauen.

Vielleicht bräuchte es auch da mehr Selbstvertrauen. Wobei gewachsene Siedlungsstrukturen natürlich auch schützenswert sind – das Museum Starnberger See selbst wurde gegründet um ein Gebäude zu erhalten und zu schützen, dass seit spätestens 1520 in situ existiert – das historische Lochmannhaus. Es ist heute Teil des Museumsensembles.

       Ein Thema, das viele Museen umtreibt, ist die Vernetzung mit Akteuren der Stadt. Ich sprach darüber kürzlich mit dem Chef vom Haus der Kunst, Andrea Lissoni. Welche Rolle spielt für Dein Programm die Kollaboration mit Institutionen, etwa dem Fünf-Seen-Filmfestival?

Leider noch eine zu geringe. Die einzelnen Institutionen haben unterschiedliche Rhythmen. Und unsere Kapazitäten auch personell sind knapp. Aber hier kann und soll mehr passieren. Immerhin werden wir bei der kommenden Ausstellung über die Unterwasserwelt des Starnberger Sees mit einer ganzen Reihe von Kooperationseinrichtungen zusammenarbeiten – darunter das Institut für Fischerei der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, das Deutsche Zentrum für Luft und Raumfahrt und die Deutsche Gesellschaft für Unterwasserarchäo­logie. Austausch ist immer bereichernd.

       Du hast im vergangenen Jahr ein interessantes Programm initiiert, wo Du Texte über den See gelesen hast, begleitet von Musik.

Ja, das Programm hieß „Eine Irrfahrt mit dem Delphin“. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir immer wieder neue Zugänge zum Museum schaffen. Auch Ungewöhnliches kann da passieren, schließlich saß ich in unserem Hauptexponat, einem Prunkboot aus dem 19. Jahrhundert, dass König Ludwig I. gehörte. In der Literatur, die ich vorgelesen habe, haben wir, wie im Programm, den Blick auf uns und den Blick nach Außen miteinander verbunden …

       … mit einem Shakespeare-Text …

… sowie mit Melville und Homer zwischen lokalen Sagen und Märchen. Das sind die Momente, in denen ich meine Arbeit besonders liebe: die unmittelbare Verbindung mit dem Publikum, die experimentellen Projekte und neuen Wege. Ein anderes Beispiel dafür ist „Gartenküche und Museumsdinner“ ein Programm im letzten Jahr, bei dem wir mit Produkten aus unserem kleinen Museumsgarten für unsere Gäste gekocht haben. Ein wunderbarer Abend für die Besuchenden wie auch für uns. Wir sind auch ein Wohlfühlkraftwerk für die Stadt …

       … eine Stadt, die häufig als bequem, wohlhabend und leicht snobistisch beschrieben wird. Zu Recht?

Bequem? Nun, ein wenig vielleicht, aber es ist auch einfach wunderschön hier – eine kleine heile Welt. Doch die Menschen haben ein Verantwortungsgefühl für ihre Region. Ich habe kürzlich im Museum öffentlich mit einem Wissenschaftler über den Klimawandel und die Folgen für den See gesprochen. Das Haus war voll. Das hat sehr viele bewegt.

       Und was wird passieren?

Wir haben Glück, der See ist recht stabil. Er wird uns noch lange mit seinem glasklaren Wasser erfreuen, wenn
wir ihn pflegen und schützen.

       Und Stichwort Wohlstand?

Wohlhabend? Ja, mitunter. Da ist es besonders erfreulich, dass die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement und zu Spenden an den Freundeskreis wächst.

       Und Snobs?

Das würde ich nicht sagen, aber die Leute wissen, was sie wollen. Sie haben unterschiedliche Erwartungen. Die einen wollen Hochkultur, die anderen lokale Geschichte. Da müssen wir vermitteln, durch Vielfalt oder durch Projekte in denen einfach beides drinsteckt.

Benjamin Tillig ist seit sechs Jahren Leiter des Museum Starnberger See. Der diplomierte Künstler ist außerdem Autor und veröffentlichte verschiedene Bücher zu Architektur und Kunst. Er ist Vater von drei Kindern, lebt mit seiner Familie in München und saniert gemeinsam mit dieser gerade ein Haus in Ammerland.

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