Die neue Permakultur

Kaum ein Architekturbüro ist in so vielen Innenstädten aktiv wie MVRDV. Immer wieder warten die Holländer mit überraschenden urbanen Entwürfen und Lösungen auf. In diesem Beitrag skizzieren dessen Partner Jacob van Rijs und Jan Knikker, wie sie die Innenstadt heilen wollen. Verantwortlich dafür: wir alle.

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Wer hätte gedacht, dass die europäische Innenstadt einmal als Problemfall besprochen wird? Jahrelang war der oft historische Shoppingkiez eines der am wenigsten krisengeplagten Stücke Stadt. Gesellschaftliche Veränderungen wie zum Beispiel Onlineshopping, Covid und eine Generation, die sich Besseres vorstellen kann, als in der Freizeit funshoppen zu gehen, haben die Lage verändert. Mit dem Schicksal des Einzelhandels scheint die Innenstadt dann auch in der Weise verknüpft zu sein, dass in den B- und C-Lagen der chronische Leerstand ganze Stadtteile unattraktiv macht.

Nachdem der Shoppingdistrikt kurzfristig mit Gastronomie geheilt wurde, gab es irgendwann auch da eine Krise, und jetzt herrscht oft Öde hinter den Schaufenstern. Selbst in guten Lagen sieht man leere Geschäfte, die notdürftig zu Büros transformiert wurden. Das ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein Phänomen, das man in der ganzen westlichen Welt beobachten kann, mehr oder weniger ausgeprägt. Man hätte sich vorstellen können, dass der Umbau der Innenstädte in Freizeit- und Einkaufszentren ein gewisses Risiko birgt. Wenn in einer Monokultur die eine Pflanzenart krank wird, geht es eben der gesamten Monokultur schlecht. Die Lösung ist wie in der Landwirtschaft eigentlich einfach: wieder auf Mischkultur setzen, im Fall der Innenstadt vielleicht eine Art städtische Permakultur schaffen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass es lokale Unterschiede gibt. Denn: Ist es wirklich so attraktiv für eine Stadt, wenn – egal ob in München oder Rom – überall die gleichen Geschäfte zu finden sind und selbst Kunstausstellungen und sogar Musicals identisch sind?

Jahrelang haben wir die gut erschlossenen Innenstädte dem Konsum gewidmet und damit auch viele negative Konsequenzen in Kauf genommen. Innenstädte mussten mit dem Auto erreichbar sein, trotz der durch den Verkehr verursachten Luftverschmutzung. Die Geschäfte sollten auch nach 22 Uhr noch geöffnet haben, und es sollte genügend Raum und vor allem viele Parkplätze für die Kunden geben. Diejenigen, die in der Innenstadt wohnen, sind in vielen Städten die „Die Hards“, die mit Ohrstöpseln schlafen, die routiniert besoffenen Touristen, Segways und Selfiemachern ausweichen und die leidvoll zusehen müssen, wie ihre Geschäfte des täglichen Bedarfs ersetzt werden durch Nutellashops, Kaffeeketten, Fast-Food-Restaurants oder anderen Kram, den wir alle scheinbar brauchen, wenn wir in einer fremden Stadt rumlaufen.

Die Identität einer Stadt wird aber eben oft auch durch die Innenstadt definiert, und wir sollten die traditionell gewachsenen Zentren wieder als Mischgebiete erleben. Rotterdams Innenstadt zum Beispiel war nach der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg als modernes Geschäfts- und Büroviertel wiederaufgebaut worden. In den sechziger Jahren wohnten im modernen, auf den Autoverkehr ausgelegten Zentrum nur noch 20.000 Menschen, und nach Geschäftsschluss war es dort völlig still. Als in den achtziger Jahren die Automatisierung im Rotterdamer Hafen die Arbeitslosenzahl in die Höhe schnellen ließ, was wiederum zu einem Anstieg des Drogenkonsums führte, wurde die leere Stadt auch auf einmal völlig unsicher. 1989 hat die Hafenstadt eine Renaissance in Gang gesetzt, die – wie nötig im Städtebau – extrem holistisch war. Man hat eine Lösung für das Drogenproblem gefunden. Die Stadt wurde wieder sicherer und damit auch interessant für neue Bewohner. Wohnungen wurden gefördert oder vom städtischen Planungsamt gefordert. Die neuen Bewohner sorgten für eine Aufwertung der Stadt, und heute leben 80.000 Menschen im Stadtzentrum. Anstatt Listen mit den zehn besten Restaurants und Kneipen wie früher gibt es heute Listen mit den fünfzehn besten Gin & Tonic-Bars. Rotterdam hat verstanden, dass die Stadt ein sehr komplexer Organismus ist, dem man nicht mit dem einen Heilmittel helfen kann. Vielmehr sind tausend kleinere Maßnahmen nötig, sowohl bottom-up als auch top-down.

Die neue Permakultur

Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die Entwicklung einer Stadt nie fertig ist. In Rotterdam wurde jahrelang das Wort „Gentrifizierung“ positiv bewertet. Das hat sich heute allerdings gewandelt. Inzwischen muss die Stadt wieder darauf achten, dass es würdigen und bezahlbaren Wohnraum für alle gibt. Wenn die Stadt ausschließlich für Reiche da ist, fehlt es auch wieder an Qualitäten, dann gibt es Polarisierung und weniger Personal, was wiederum für eine Schwächung der Wirtschaft sorgt. Auch hier gilt wieder: Monokultur ist einfach schlecht. In vielen Städten sind gerade die durchmischten Nachbarschaften angesagt und attraktiv. Die erreichbare, gemischte und erlaufbare (15-Minuten-)Stadt ist im Moment der Trend.

Damit haben wir etwas zur Innovation erklärt, das in Europa eigentlich schon immer Tradition war. Wir wollen also die historische Stadt wieder nutzen wie früher? Ja, aber mit neuen Parametern: Gebäude müssen klimagerecht angepasst werden. Das betrifft fast den gesamten Baubestand, aber damit können wir dessen Emissionen um ein Drittel verringern.

Außerdem muss die Mobilität folgen. Wir müssen wegkommen von der Dominanz des Individualverkehrs in Richtung nachhaltiger Mobilität, die keine fossile Energie verbraucht und die Luft in der Stadt nicht verpestet. Die Parkplatznormen sind antiquiert, wir sollten viel konsequenter ohne Parkplätze bauen. Dann bekäme die Teilmobilität einen Schub, und es würden viel weniger Emissionen verbaut werden. Wir wollen es den Autofahrern nicht unbequemer machen, sondern an deren Gemeinschaftssinn appellieren. Es gilt, die Stadt weniger autofreundlich zu machen, gleichzeitig aber auch gute Alternativen zu schaffen. Die neue Mobilität sollte multimodal sein, wo vom Roller zum Carsharing bis zur Metro alles geht. Darüber hinaus sollte man natürlich das Fahrrad so viel wie möglich fördern. Das tut nicht nur der Stadt gut, sondern auch unserer Gesundheit. Eine große Masse an Fahrrädern sorgt zwar wieder für eine eigene Problematik, wie man in einigen niederländischen Städten sehen kann. Aber das Radeln sollte nicht so stiefmütterlich behandelt werden, wie es derzeit in Berlin oder München der Fall ist.

Wem gehört der öffentliche Raum eigentlich, wird immer wieder gefragt. Auch auf diese Frage sollten wir eine überzeugende Antwort finden. Im Moment wird vor allem dem Auto Raum geschenkt.

Wenn wir aber wieder attraktive, gut funktionierende Städte wollen, muss der öffentliche Raum wieder den Menschen gehören. Wir brauchen Platz für unser tägliches Leben, wir wollen glücklich auf der Arbeit sein, eine soziale und fröhliche Freizeit erleben, ein gesundes Umfeld für uns und unsere Kinder. Und wir brauchen genug Außenraum und Natur um uns herum, um den Stress des Alltags besser zu meistern. Das sollte beim Umbau der Stadt im Zentrum stehen. Die Betonwannen der Einkaufsstraßen sind gestrig, Wohnviertel dominiert von stehendem Blech. Die Stadt muss grün werden und damit auch ein günstiges Mikroklima bieten, das im Klimawandel Leben rettet und die Stadt angenehm hält. In Spanien hat sich eine Stadt entschieden, das Auto ganz aus dem Zentrum zu verbannen, was zu mehr Bewohnern, Qualität und auch Umsatz geführt hat. Diese Idee ist nicht auf alle Städte übertragbar, aber wir sollten von solchen Experimenten lernen. Die Stadt Eindhoven versucht, das Stadtzentrum so grün und attraktiv zu machen, dass der Arbeitstitel des Plans „Nationalpark Eindhoven“ war. Die Stadt Rotterdam hat die Dächer im Visier und will alle Dächer der Stadt nutzen. Wien hat den Sozialwohnungsbau und eine zarte Verdichtung zur Verbesserung der Stadt genutzt. In Utrecht wurde eine Gracht im Zentrum wieder geöffnet und eine unmenschliche Betonwüste wieder begehbar gemacht. Kopenhagen hat niederländische Städte im Fahrradverkehr überflügelt.

Bilbao hat eine Renaissance mit Architektur geschafft. In Seoul hat man Autobahnen abgerissen, Parkplätze in Parks umgebaut und der Stadt damit einen unglaublichen Impuls in die richtige Richtung gegeben.

Von solchen brillanten Beispielen sollten wir alle lernen. Wir sollten die Stadt als jenes komplexe Gebilde begreifen, das sie ist, und an allen Ecken und Enden an ihr zerren, um sie zu verbessern. Und ja, wir müssen auf alle Parameter achten, auf alle Interessen – und wir sollten für Win-win-win-Situationen sorgen, die alle Stakeholder miteinbezieht. Wenn es der Innenstadt gut geht, ist die Chance groß, dass auch die Umgebung davon profitiert. Wenn eine  15-Minuten-Stadt eingeführt wird, dann muss das Prinzip auch für die Peripherie gelten. Lokale Dienste wie Arztpraxen, Apotheken oder Grundschulen, die in den letzten Jahren zugunsten oder auch dank des Autos zentral organisiert wurden, sollten in die Nachbarschaften und Dörfer zurückkehren.

Das klingt  vielleicht ein ganz klein wenig wie eine Utopie. Aber es geht, wenn wir alle Verantwortung für unsere Stadt übernehmen. Natürlich ist die Politik gefragt, die Stadt auf lange Sicht hin zu verbessern und die Ziele höherzustecken als bis zur nächsten Wahl. Natürlich sollten die Investoren der Stadt, in der sie arbeiten, nicht wehtun, und mehr Schönheit und Stolz realisieren. Aber wir sind auch alle individuell gefragt, wir sind alle Stadtmacher! In ihrem damaligen Wohnort Schiedam hat MVRDVs Gründungspartnerin Nathalie de Vries sich für die dortige darbende historische Fußgängerzone eingesetzt. Mieten wurden gesenkt, um Mittelständlern neue Chancen zu bieten, und über den Geschäften wurden wieder Wohnungen kreiert, damit es auch abends noch Leben in der Stadt gibt. In meiner (Jan Knikkers) Straße in Den Haag haben alle Nachbarn in einer Gemeinschaftsaktion die breiten Bürgersteige verkleinert, einen Teil der versiegelten Fläche aufgebrochen und Pflanzen eingesetzt, um sowohl die Stadt grüner zu machen als auch einen Gemeinschaftssinn zu entwickeln.

Der nächste Schritt ist die Wiedereröffnung der zugeschütteten Grachten. In Rom, so konnten wir vor Kurzem lesen, reparieren Bürger heimlich Straßen und öffentliche Einrichtungen (womit sie paradoxerweise Bußgelder riskieren), um die Lebensqualität in der Stadt zu verbessern. Dies alles sind Beispiele dafür, dass wir die Zukunft der Stadt – und die Zukunft der Innenstadt – nicht passiv erreichen. Vielmehr sind wir alle gefragt, aktiv daran teilzunehmen. Wir sollten alle auf unsere eigene Weise zu Stadtmachern werden und die Zukunft unserer Stadt gestalten.

Jacob van Rijs

Jacob van Rijs ist Partner im Büro MVRDV in Rotterdam. Er studierte an der Freien Akademie Den Haag und an der TU Delft. 1991 gründete er MVRDV gemeinsam mit Winy Maas und Nathalie de Vries.

Jan Knikker

Jan Knikker ist Partner bei MVRDV und dessen Director of Strategy. Vor seinem Einstieg dort arbeitete er bei OMA. Er startete seine Karriere als Journalist.

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