Zeitlos zeitge­nössisch

Die Bauwende läuft. Dabei geraten auch regionale Bau­materialien wieder stärker in den Fokus. Unser Autor Andreas Ruby, Chef des Schweizer Architektur­museums, stieß in Spanien auf einen span­nenden Fall – und zwar im Bereich sozialer Wohnungsbau.

Einige Monate ist es her, da hatte ich die lang ersehnte Gelegenheit, das Ferienhaus von Jørn Utzon in Can Lis auf Mallorca zu besichtigen. Ein befreundeter Architekt aus Mallorca, Jaume Mayol von dem Architekturbüro Ted’A, hatte mich zu einer Führung durch das Haus eingeladen. Das Haus ist ein seltener Moment in der modernen Architektur, weil Utzon hier ganz und gar auf ein lokales Material gesetzt hat, um den Ort aus sich heraus zu definieren. Das Haus besteht größtenteils aus massiven Blöcken des auf Mallorca typischen Sandsteins Marès.

Aus diesem Stein hatten die Mallorquiner über Jahrhunderte ihre Kirchen, öffentlichen Gebäude und oft auch Wohngebäude errichtet. Durch die Industrialisierung des Bauens im 20. Jahrhundert war das Material vor­über­gehend in Vergessenheit geraten, bevor Utzon es spektakulär wiederentdeckte. Dieses Haus, so erzählt mir Jaume, wurde zu einem Erweckungserlebnis für Architekten seiner Genera­tion. Sie analysierten es bis ins Detail, um zu verstehen, wie sich eine zeitgenössische Architektur aus vorwiegend lokalen Ressourcen und mit Hilfe traditioneller Bauverfahren erzeugen ließe. Bevor wir uns verabschieden, rät er mir, auf meinem Rückweg noch einen neuen sozialen Wohnungsbau anzuschauen, der in Santa Eugenià liegt. Wenig später komme ich in dem 1700-Seelen-Dorf im Landesinnern von Mallorca an, wo man vom Tourismus kaum was spürt.

Globale Moderne trifft auf lokale Baumaterialien: Das Haus von Jørn Utzon in Can Lis. Aus diesem Stein hat man auf Mallorca schon immer gebaut. Fotos: Iwan Baan

Ich habe keine Adresse, aber bilde mir ein, dass mir ein neuer sozialer Wohnungsbau in diesem ländlichen Umfeld sicher unmittelbar ins Auge stechen wird. Doch Fehlanzeige, auf dem Weg durchs Dorf finde ich nichts, was aus der traditionellen Textur der zwei- bis dreistöckigen Bebauung des Ortes ausbricht. Nichts zu sehen von den typischen ästhetischen Erkennungscodes des sozialen Wohnungsbaus, die Menschen mit geringerem Einkommen so oft unangenehm gesellschaftlich ausgrenzen. Bis ich zu einem zweistöckigen Gebäude komme, das mich sofort fasziniert, weil es kaum preisgibt, aus welcher Zeit es stammt. Mit seinen Mauern aus massiven Standsteinblöcken, den hölzernen Fensterläden und einem Satteldach aus keramischen Dachziegeln wirkt es so selbstverständlich in der lokalen Baukultur des Dorfs verwurzelt wie alle anderen Häuser hier.

Man hat das Gefühl, es war schon immer hier und gehört auch genau hier­hin. Aber gleichzeitig hat das Haus eine entschieden gegenwärtige Ausstrahlung. Die einfachen wie eleganten hölzernen Fenster und das rückwärtige Eingangstor und die Geländer vor den Fenstern aus Bewährungseisen sind klar zeitgenössisch.

Man spürt, dass das Haus erst kürzlich gebaut wurde.

Könnte das vielleicht wirklich der soziale Wohnungsbau sein, den ich suchte? Eine kurze Google-Recherche bestätigt die Vermutung. Das Haus ist das jüngste einer Serie von fast 30 Wohnungsbauprojekten, die das Instituto Balear de la Vivienda (IBAVI), das staatliche Wohnungsbauinstitut, innerhalb von fünf Jahren realisiert hat. Weil ich vor Ort nicht weiterkomme – es ist niemand zu Hause, den ich bitten könnte, mir vielleicht seine Wohnung zu zeigen – fahre ich nach Palma zurück, um meine Architektenfreunde auszufragen. Stolz drücken sie mir eine neue Ausgabe von „El Croquis“ in die Hand, einer der weltweit renommiertesten Architekturzeitschriften. In der wird die Arbeit der jungen mallorquinischen Szene vorgestellt. „Unsere Bibel“, wie sie lächelnd hinzufügen.

Die Bibel heißt „IBAVI 2019 – 2023: A COLLECTIVE RESEARCH“ und soll mich die nächsten zwei Tage nicht mehr loslassen. Denn sie verweist auf ein veritables Architekturphänomen: 26 Projekte von einer Reihe jüngerer spanischer Architekturbüros, die zeigen, wie man mit einem traditionellen Baumaterial kostengünstigen sozialen Wohnungsbau realisieren und diesen dabei auch noch typologisch radikal erneuern kann.

Die Grundlage dieser Bewegung ist eine politische Initiative der Balearischen Regierung. 2018 erließ sie ein Gesetz, das die Förderung von geschütztem Wohnraum, wie sozialer Wohnungsbau in Spanien heißt (vivienda de protección oficial), als dauerhaft sanktionierte. Das bedeutet, dass die Förderung nicht mehr nach ein paar Jahrzenten ausläuft wie in Deutschland. Damit reagierte die Politik auf die steigende Belastung des Wohnungsmarktes durch die ökonomischen und ökologischen Folgen des Übertourismus auf den Balearen, wo auf 1,1 Millionen Einwohner jährlich 18 Millionen Touristen kommen. Besonders der enorme Ressourcenverbrauch des Luxustourismus führt dazu, dass Mieten und Bodenpreise für Menschen mit geringem Einkommen immer weniger bezahlbar werden. Zum Ausgleich entsprechenden sozialen Wohnraum zu schaffen ist deswegen von oberster Priorität.

Ein Gesetz alleine ändert leider noch gar nichts.

Damals gab es auf den Balearen einen Bestand von lediglich 1753 Sozialwohnungen. Als 2019 die Ökonomin Cris Ballester neue Geschäftsführerin des IBAVI wird, beschließt sie den Bau 1000 neuer Sozialwohnungen innerhalb von fünf Jahren. Sie beauftragt den Leiter der technischen Abteilung des Instituts, den jungen Architekten Carles Oliver, eine Strategie für kostengünstigen Wohnungsbau zu entwickeln, die soziale, ökologische und ökonomische Grenzwerte gleichermaßen berücksichtigt.

Die Grundlage dafür bot das IBAVI-Pilotprojekt „Life re-using Posidunia“ mit insgesamt 14 Wohnungen in La Formentera, das von 2009 bis 2017 realisiert wurde. Kofinanziert von der balearischen Regierung und dem European LIFE+ Programm, wurde das Projekt nicht nur nach besonderen ökologischen Kriterien gebaut, sondern auch über mehrere Jahre während der Nutzung in Bezug auf seine ökologischen Verbrauchswerte
überprüft.

Um den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, arbeiten die Architekten vielfach mit traditionellen Materialen und Bautechniken aus dem balearischen vernakulären Bauen, die in der Moderne durch moderne Technologien verdrängt worden waren. So verwenden sie zum Beispiel Neptungras für die Wärmedämmung des Dachs. Dabei wird das auf den Stränden der Insel regelmäßig angeschwemmte Seegras sorgfältig getrocknet und in komprimierter Form und in einer Stärke von 16 bis 24 Zentimetern als Wärmedämmungsschicht verwendet. Die Türen in dem Projekt bestehen aus wiederverwendetem Holz. Als Oliver seiner Chefin das Projekt präsentiert, antwortet sie:

„Das ist genau das, was wir brauchen. Aber es sind nur 14 Wohnungen, wir aber brauchen 1000!“

Damit war die Grundidee für das balearische Wohnungswunder geboren: Eine Architektur, die mit lokalen Materialien und Bautechniken den Verbrauch von Ressourcen und Energie sowie den Ausstoß von klimaschädlichen Emissionen reduziert. In den Architekturwettbewerben, die das IBAVI fortan für seine Projekte organisiert, gibt es dafür klare Zielvorgaben: Die Gebäude müssen die während des Bauprozesses anfallenden CO₂-Emissionen um 50 Prozent reduzieren, den Wasserbrauch um 60 Prozent und die Müllproduktion um 50 Prozent. Der Energieverbrauch in der Nutzung der Gebäude muss um 75 Prozent reduziert werden, konkret darf der Energiebedarf für Kühlung und Heizung 15 kW/m²/h nicht übersteigen.

So sieht sozialer Wohnungsbau aus, wenn er ganz auf lokale Baumaterialien setzt. Nicht weniger als die „ästhetische Produktion von Wohnwürde im sozialen Wohnungsbau“ sieht Andreas Ruby in dem Mallorquiner Projekt. Hier werden Bewohnerinnen und Bewohner nicht als soziale Problemfälle katalogisiert. Fotos: Milena Villalba

Das Wohnhaus in Santa Eugènia zeigt, wie man diese ambitionierten Werte erreichen kann: nicht mit Hightech, sondern vor allem durch traditionelle Mate­rialien, Bauweisen und Konstruktions­systeme. Als erstes gilt es, CO₂-intensive Baustoffe wie Beton so weit wie möglich zu vermeiden und durch lokale Niedrigemissionsmaterialien zu ersetzen. Der Marès kommt da wie gerufen. Von Utzon haben sich die jungen Architekten abgeschaut, den Sandstein in einer zweischaligen Konstruktion zu verarbeiten. Während die innere Wandschicht aus 80 mal 40 mal 20 Zentimeter großen Marès-Blöcken das Gewicht der Geschossdecken trägt, ist die äußere Schicht selbsttragend und wird horizontal über auskragende Pilaster stabilisiert. Zusätzlich schützt sie die dahinterliegende Dämmung, die Utzon in Can Lis noch weggelassen hatte, weswegen sich die Innenräume seines Hauses im Sommer stark aufheizen und im Winter feuchte Kälte anziehen. In Santa Eugènia gibt es Beton nur ohne Bewährung im Fussbodenaufbau (acht Zentimeter) und als partielle Verstärkung der zwei 3,50 Meter tiefen Gewölbedecken aus Marès, die von ebensolchen Stützen getragen werden. Der Freiraum zwischen den Stützen beträgt 1,20 Meter, was wenig klingt, aber aufregend varia­ble Grundrisse ermöglicht. Wenn man getrennte Zimmer braucht, lassen sich die Interkolumnien mit hölzernen Doppeltüren schließen, die sich bei Bedarf auch vollständig aufklappen lassen und so eine Porösität im Grundriss erzeugen. Wann immer sich ein Raum über die ganze Grundrisstiefe erstreckt – etwa in den Wohnzimmern –, agieren die Stützen wie Skulpturen im Raum und artikulieren unterschiedliche Nutzungszonen. Diese domestische Detox-Kur vom Stahlbeton macht deutlich, welche klimatische Hypothek der freie Grundriss der Moderne mit sich brachte, ein Kostenfaktor, der für Le Corbusier wahrscheinlich völlig unwesentlich war, uns aber heute nicht mehr egal sein kann. Gleichzeitig versteht man auch, wieviel man gewinnt, wenn man „Less is More“ nicht mehr als primär ästhetisches Dogma, sondern als echtes commitment zu Suffizienz begreift. So gibt es in diesem zweistöckigen Haus mit acht Wohnungen keine Treppenhäuser. Jede Wohnung hat ihren direkten Zugang von außen, und die Wohnungen im Ober­geschoss werden vom Erdgeschoss aus über eine ein­läufige Treppe erschlossen. Das bedeutet, jede Wohnung fühlt sich für die Bewohner wie ihr Haus an – eine bemerkenswerte psychologische Aufwertung von sozialem Wohnungsbau.

Völlig entwaffnend ist das Konzept zur Behindertenzugänglichkeit der Wohnungen. Es gibt keine Aufzüge oder sonstige Sondererschließungen. Hier wohnen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen einfach im Erdgeschoss. Das Besondere an dieser architektonischen Ästhetik der Suffizienz ist, dass ihre scheinbare Einfachheit immer auch großzügig wirkt.

Wo kann man, bitte schön, unter Gewölben aus Naturstein wohnen wie hier im Erdgeschoss?

Die sich bei der nach Norden orientierten Wohnung sogar mit zwei riesigen Rundbogenfenstern nach außen öffnen? Und wo kann man unter einem hölzernen Dachstuhl wohnen, dessen oberes Volumen bewusst offen gelassen ist, wie hier im Obergeschoss? Diese ästhetische Produktion von Wohnwürde im sozialen Wohnungsbau, der seine Bewohner in der Regel für gewöhnlich eher als soziale Problemfälle katalogisiert und mit einer Architektur des Existenzminimums abspeist, ist aus meiner Sicht die eine wegweisende Qualität dieser Projekte. Einen zweiten und nicht minder wichtigen Verdienst sehe ich darin, dass sie die Möglichkeit einer zeitgenössischen „vernakulären“ Architektur aufzeigen. Der Begriff wurde 1964 von Bernard Rudofsky in seiner legendären Ausstellung „Architecture Without Architects“ am Museum of Modern Art in New York in den Architekturdiskurs eingeführt. Die Ausstellung stellte die Tabula-rasa-Mentalität der modernen Architektur bloß, die das konstruktive und kulturelle Wissen des vormodernen Bauens für überholt erklärte, um ihren Fortschrittsanspruch zu legitimieren. Rudofsky sammelte zahlreiche faszinierende Beispiele des vernakulären Bauens aus mehreren Tausend Jahren Baugeschichte und unterschiedlichen Teilen der Welt an, die die historische Ignoranz der Moderne gnadenlos unter Beweis stellten. Leider unterschlug er dabei die Ansätze eines vernakulären Denkens auch der modernen Architektur, die es durchaus gab – zum Beispiel bei Geoffrey Bawa, Sigurd Lewerentz, Juan O’Gormann, Jože Plečnik, Heinrich Tessenow oder Rudolf Schwarz. Daraus konnte der Eindruck entstehen, dass es eine vernakuläre Architektur nur in der Vergangenheit geben konnte, während die Moderne gleichsam zu kultureller Amnesie verdammt sei.

Das wäre eine fatale und unnötig verkürzte Schlussfolgerung. Vor allem die Dringlichkeit, heute wirksame Antworten im Kampf gegen den Klimawandel zu entwickeln, macht es notwendig, dass zeitgenössische Architektur die Ansätze des vernakulären Bauens auch in der Gegenwart weiterentwickelt. Die Arbeit des IBAVI zeigt exemplarisch, wie sehr sich diese Re-Orientierung lohnt – nicht nur für die Umwelt und uns Menschen, sondern ganz offensichtlich auch für die Architektur selbst.

Andreas Ruby ist Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums in Basel. Der studierte Kunsthistoriker leitet außerdem den Verlag „Ruby Press“ in Berlin. Ruby ist einer der renommiertesten deutschsprachigen Architekturpublizisten unserer Zeit.

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