Weniger Tech, mehr Inspi­ration. Die Neuer­findung der Arbeitswelt

Gerade im Office-Segment galt bisher: je mehr digital, desto effizienter. Hier findet ein Umdenken statt. Eine Bestandsaufnahme

Pittsburgh 1902. Willis Carrier, Angestellter in einer Papierfabrik, hat eine Intuition und erfindet die Klimaanlage. Es ist der Anfang der Klimatisierung von Hallen und Büroräumen.

Stuttgart 1927. Maison Citröhan. Le Corbusier realisiert die Wohnmaschine – und bringt die Effizienz der Arbeitswelt in den Wohnbereich. Abgeleitet vom Automobilhersteller Citroën, liefert er eine provokante Anspielung auf die serielle Fertigung, aber auch auf die Anlagetechnik. Ein Haus soll wie ein Dampfschiff, Auto oder Flugzeug funktionieren: Le Corbusier verbaut Müllschlucker, modernste Heizsysteme und Elektrosysteme. Die „Machine à Habiter“ ist geboren – und der Gedanke, dass sich Wohnen und Arbeiten gegenseitig inspirieren können.

Berlin 1958. Flatowallee 16. An der Fassade der „Unitè d’Habitation“ ist der „Modulor“ abgebildet, ein Proportionssystem, inspiriert vom vitruvianischen Menschen. Seine berühmteste Darstellung ist eine Zeichnung von Leonardo da Vinci. Es geht um die Zentralität des Menschen – und um die „Égalité“, wie sie schon das Bauhaus theorisiert hatte. Die Menschen sind alle gleich – und haben die gleichen Bedürfnisse.

Die Maschine wird größer.

In den Jahrzenten danach entwickeln sich Häuser und Büros immer mehr zur echten Maschine: Wärmetechnik, Kältetechnik, Steuerungstechnik, Klimatechnik, Lüftungstechnik. Die Vollautomatisierung ist das Ziel. Die corbusianische Prophezeiung der „Machine à Habiter“ ist Wirklichkeit geworden.

Sie hat jetzt unzählige Motoren.

Und sehr viel Steuerungstechnik, um den Verbrauch zu reduzieren und zu kontrollieren.

Was wäre aber, wenn der Verbrauch so minimal wäre, dass man ihn gar nicht minimieren muss? Ein Paradigmenwechsel. Lustenau, Vorarlberg, 2013. Ein anderes Gebäude wird fertiggestellt, für das Dietmar Eberle verantwortlich zeichnet, Professor und Mitgründer des Büros Baumschlager Eberle Architekten. Ein Prototyp. Das Haus 2226 mit Kunstaustellung und Cafeteria hat keine Heizung, Klimaanlage oder Lüftungssystem. Es funktioniert mit der thermischen Trägheit der 78 Zentimeter dicken Außenwände und der Zwischendecken. Die Gebäudegeometrie macht den Rest. Die Abwärme der Nutzer (circa 80 Watt pro Person) wird in der Wärmebilanzierung eingerechnet, ebenso wie die Abwärme von Computern, Kaffeemaschinen und Kühlschränken. Die Kontrolle der Energieströme und des CO₂ übernimmt die Software „2226 Operating-System“, abgestimmt auf das lokale Klima und die persönlichen Bedürfnisse. „2226“ steht für Wohlfühltemperaturen zwischen 22 und 26 Grad Celsius ohne Heiz- oder Kühltechnik.

Schlins, Vorarlberg, Sommer 2023. Wir sind unterwegs mit der TU München und besichtigen die Konstruktionen des Architekten Martin Rauch (Gründer des Unternehmens Lehm Ton Erde). Der Ansatz für das moderne nachhaltige Bauen greift auf einen der ältesten Baustoffe der Welt zu: Lehm. In einer Halle werden Lehmziegel mit einer Presse gestampft. Je nach Körnung des Lehms entstehen raue oder spiegelglatte Oberflächen. Ohne Zusatz von jeglichem Bindemittel.

Das Haus 2226 von Baumschlager Eberle Architekten. Die thermische Trägheit dicker Wände liefert hier das Erfolgskonzept.

München 2021. Der Projektentwickler Michael Ehret, der forschende Ingenieur Thomas Auer und der Architekt Andreas Hild treffen sich, um über das alte Kesselhaus des Schwabinger Krankenhauses zu diskutieren. Es gibt bereits eine Vorplanung, die das Kesselhaus mit jeder erdenklichen Maschinentechnik vergewaltigt. Im Gespräch eliminieren die drei ganz schnell die technischen Überfrachtungen. Das neue Konzept sieht vor, mit den vorhandenen bauphysikalischen Eigenschaften des Hauses und mit der Thermik für die Zirkulation der Luft zu arbeiten. Das Konzept „Maschinenhaus“ ist geboren. Ein Maschinenhaus mit so wenig Maschinen wie möglich. Die Negation der Maschine. Passive Wärmegewinne und CO₂-Steuerung für die Lüftung über die Bestandslüftungstürme.

München 2024. Der Studierende Valentin Hegele schreibt eine Masterthesis mit dem Titel „Stake­holderintegrierte Entwicklung einer Suffizienzstrategie zur Reduzierung der Lebenszykluskosten in der Quartiersentwicklung“. Er fragt: Suffizienz – wie wenig ist genug? Es geht in der Arbeit auch um die Flächensuffizienz; wie viel Fläche braucht ein Mensch zum Leben und zum Arbeiten. Hinsichtlich der Nachhaltigkeit: Wie viel Fläche darf er verbrauchen?

Diese Konzepte wurden bereits in dem Buch „Barba“ des holländischen Architekten Winy Maas (Gründer des Büros MVRDV) thematisiert. Maas hat sogar eine neue Maßeinheit definiert: „m²/h“. Wenn man in einem Einzelbett acht Stunden schläft, hat man 16m²/h verbraucht. Oder um es anders auszudrücken: 16 Stundenquadratmeter. Wie wenig ist genug? Die kulturelle Änderung findet heute in allen Bereichen statt. Die sichtbare Technik verschwindet. Der HiFi-Tower ist einem Handy und einer Boombox gewichen. Hardware wird zunehmend durch Software ersetzt. Die akademische und die produzierende Welt scheinen im Einklang zu sein – ausnahmsweise. Meist besteht zwischen beiden ein Gap. Der seltene Einklang mag auch daran liegen, dass hier die Bautechnik zentrale Erkenntnisse über uns Menschen aufnimmt. Die Einsicht macht sich breit, dass die Menschen eben nicht normiert sind, dass sie sich aber flexibel an ihre Umgebung anpassen müssen – und eben auch können. Genau dies ist ja die Basis für die Philosophie des Lowtech – auch im Bürosegment.

Der größte Gegner des Lowtech-Ansatzes sind hingegen die Normen. Normen beruhigen, geben Halt, sind Todschlagargument. Und im Jahr 1922 war die Normierung des DIN-A4-Blattes sicherlich auch wichtig.

Im Schwabinger Maschinenhaus zeigt der Architekt Andreas Hild, wie spannend einfaches Bauen auch im Office-Bereich sein kann.

Rigide Normenblockieren das neue Denken.

Während im Wohnbereich die Reduzierung der Technik einfach ist, ist das Lowtech-Prinzip in Bürogebäuden noch nicht so einfach durchsetzbar. 2226 ist die Ausnahme. Gerade hier behindern die vielen Normen bis dato größere Sprünge. Das Ganze fängt schon mit der Arbeitsfläche je Mitarbeitendem laut Arbeitsstättenrichtlinie (ASR) an. Acht Qua­dratmeter pro Bildschirmarbeitsplatz sind vorgeschrieben, und laut DIN 4108-2 sind für München maximal 27 Grad Celsius als zulässige maximale Innentemperatur erlaubt.

Aber: DIN-Normen sind nur Empfehlungen. Die ASR 3.5 „Technische Regeln für Arbeitsstätten“ sieht eine Reihe von Maßnahmen bei Temperaturen über 30 Grad vor: Lockerung der Bekleidungsregeln, Lüftung in den frühen Morgenstunden, Benutzung von Ventilatoren und so weiter. All das sind praktische Lowtech-Maßnahmen.

München, Maschinenhaus Schwabing, Frühjahr 2024. Die ersten Stahlträger für die „Tische“, die drei Ebenen, jede mit rund 700 Quadratmetern Fläche, die die neuen Büroflächen im denkmalgeschützten Hauptgebäude darstellen, werden in die Arbeitsmaschine eingebaut. Die Suffizienz ist anlagetechnisch durch wenige Komponenten definiert: eine Fußbodenheizung, die im Sommer durch das Zirkulieren eines kälteren Mediums für eine Temperierung sorgt, die konvektiven Luftbewegungen und die thermische Trägheit (Aktivierung) der massiven Bestandswände. Deren Stärke entspricht der des Lustenauer 2226-Gebäudes: 80 Zentimeter. Laut einer thermischen Simulation von Transsolar werden im Maschinenhaus Temperaturen von 27 Grad im Sommer nicht überschritten.

Noch ein Paradigmenwechsel: Temperatur und Belichtung werden nicht an die Bedürfnisse eines nicht existierenden normierten Menschen und eines fest definierten Arbeitsplatzes angepasst. Stattdessen passt sich der Nutzer an die Umgebung an, je nach Tätigkeit, von der konzentrierten Arbeit bis zum Brainstorming im Team. Die Sitzplatzwahl ist frei. Man darf sich im Raum unabhängig bewegen – und sich das Gebäude situativ aneignen.

Dieser flexible Ansatz orientiert sich auch an aktuellen Forschungen, die Unternehmen wie Steelcase oder Vitra seit Jahren betreiben. In deren Zentrum steht häufig der Workplace der Zukunft –  inklusive flexibler Nutzung und ohne fest zugewiesene Plätze. Wie oft ist man überhaupt im Büro? Laut Institut für Arbeitsmarkt  und Berufsforschung (IAB) sind beschäftigte im Schnitt 15 Arbeits­tage krankgemeldet, bei einem Urlaubsanspruch von, in vielen Firmen, 30 Tagen. Das heißt, ein Arbeitsplatz steht an 45 von 230 Tagen leer.

Dies bedeutet eine Überkapazität von 20 Prozent.

Und das „Distance Working“ ist in dieser Betrachtung noch nicht einmal eingeflossen. Und was das Parken anbelangt: Hier geht Steelcase künftig von einem Verhältnis von drei Mitarbeitern pro Stellplatz aus. Wie also funktioniert sie, diese Arbeitsmaschine der Zukunft? Sie muss ein Symbol, eine Ikone werden, ein Ort des Zusammenkommens, eine Inspiration, nachhaltig im Sinne der Flächensuffizienz und von Mehrfachnutzungen, nachhaltig im Sinne des Lowtech-Ansatzes. Die Maschine wird am Anfang vielleicht destabilisierend wirken, mit keinem fest zugeordneten Arbeitsplatz; sie wird aber Ihre Teamdynamik dort entfalten, wo die Ergebnisse und ZieIe der Arbeit im Vordergrund stehen – und nicht mehr das Ritual der Kaffeetasse am eigenen exklusiven Schreibtisch.

Langsam, aber sicher sind wir in der Zukunft angekommen – auch was die Welt der Arbeit anbelangt. Was wir immer noch brauchen, ist ein Headquarter, ein Symbol und eine Ikone, die unsere Arbeit und Mission darstellt und zusammenhält. Der Workplace von morgen wird zum Ort der Identifikation, der Zugehörigkeit. Lowtech ist hierzu nicht nur kein Gegensatz. Es ist sogar Programm.

Marco Ulivieri wurde im italienischen Bozen geboren. Er studierte Architektur am Politecnico di Milano. Seit  1998 lebt er in München und ist seit 2020 Head of Project Development bei e+k.

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