„Kreissägen sind nichts für Fünfjährige“

Manfred Spitzer ist Neuro­loge – und einer der renom­mier­testen Kritiker unserer digital über­sättig­ten Welt. Ein Gespräch über digi­tale Demenz und gelebte Balance

Professor Spitzer, sind Sie ein Technologieverächter?

Nein, wirklich nicht. Das gehört zu den dummen Sachen, die manche meiner Kritiker über mich sagen. Ich nutze die heute verfügbaren technischen Werkzeuge – Computer, Smartphone, Internet et cetera – wie praktisch alle anderen Menschen sowohl privat als auch vor allem, um meine Arbeit produktiver zu machen oder überhaupt erst zu ermöglichen.

Was ist dann Ihre Kritik an unseren digitalen Tools?

Eine Kreissäge ist ein Superwerkzeug für einen Schreiner, gehört aber nicht in die Hände von Fünfjährigen. Das leuchtet jedem ein. Bei digitalen Medien, die bei Kindern und Jugendlichen die Gehirnentwicklung, die körperliche Entwicklung und die Bildung nachweislich beeinträchtigen, muss es sich noch herumsprechen. Die genannten Schäden sind nicht von mir einfach behauptet, sondern vielmehr in der medizinischen Fachliteratur publiziert.

Was genau verstehen Sie unter „digitaler Demenz“?

Im Jahr 2020 wurde im Medizin-Fachblatt „The Lancet“ von einer Expertenkommission eine große Übersicht zu vorbeugenden Maßnahmen im Hinblick auf demenziellen Abbau publiziert, dass Bildung in jungen Jahren der größte vom Menschen beeinflussbare Faktor zur Prävention von Demenz im Alter darstellt. Weil digitale Medien nachweislich der Bildung schaden, wird ihre übermäßige Nutzung heute in einigen Jahrzehnten zu mehr Fällen von Demenz führen. Eine kanadische Forschergruppe hat im Jahr 2022 in einem Übersichtsartikel mit dem Titel „Digital Dementia“ – publiziert in einer neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift – darauf hingewiesen, dass die Schätzungen der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control zum Anstieg von Demenz bis ins Jahr 2060 auf das Doppelte der heute vorliegenden Fälle, nach dem, was wir heute wissen, nochmals verdoppelt bis verdreifacht werden müssen. Denn die Schätzungen beruhen auf Daten zu Menschen, die heute an Demenz erkrankt sind und daher in ihrer Jugend nicht dem negativen Einfluss digitaler Medien ausgesetzt waren. Zieht man diesen Einfluss aber mit in Betracht, ergibt sich für 2060 ein vier- bis sechsfacher Anstieg.

Lässt sich diese komplett vermeiden – oder handelt es sich um eine Kulturkrankheit, der niemand von uns entgehen kann?

Smartphones regnen ja nicht einfach so vom Himmel: Wir kaufen sie und schenken sie unseren Kindern. Das können wir ändern. Als die Chinesen festgestellt hatten, dass Smartphone-Nutzung bei Kindern zu Kurzsichtigkeit und die wiederum zu Erblindung im Alter führen kann, hat die Regierung am nächsten Tag Smartphones bis zu einem Alter von 15 Jahren verboten. Der französische Präsident erwägt ein Smartphone-Verbot bis 14 Jahren, einige andere Länder und US-Bundesstaaten ebenfalls. Als man erkannt hatte, dass die „Kulturkrankheit“ Rauchen schädlich ist, hat man ja auch Beschränkungen für Kinder und jugendliche eingeführt.

Was verändert in diesem Zusammenhang die KI?

Künstliche Intelligenz wird unser Leben verändern, weil wir mit ihrer Hilfe viele Arbeiten und Prozesse effektiver durchführen können. Sie wird in nahezu alle Lebensbereiche Einzug halten. Im Bildungsbereich jedoch sollte man vorsichtig sein, denn denken lernt man (wie Fußball- und Geigespielen auch) nur dadurch, dass man selber denkt. Weil das Gehirn wie ein Muskel des Trainings bedarf, um sich gut zu entwickeln, sollten wir geistige Arbeit unseren jungen Menschen nicht vorenthalten.

Arbeiten Sie selbst mit KI in irgendeiner Form?

Noch nicht, einige meiner wissenschaftlichen Mitarbeiter aber durchaus. KI wird innerhalb der nächsten Jahre den medizinischen Alltag sehr verändern – das zeichnet sich durchaus jetzt in einem hohen Maße bereits deutlich ab.

Wie intensiv nutzen Sie selbst Ihr Smartphone?

Fast nur zum Telefonieren. Für alles andere nehmen ich eher meinen Desktoprechner.

Lässt sich die Digitalisierung unseres Lebens aufhalten?

Nein, das wäre auch gar nicht sinnvoll. Zugleich müssen wir jedoch Kinder und Jugendliche schützen.

Wie erreicht man Ihres Erachtens eine gesunde und gute Balance bei der Nutzung digitaler Technologien?

Weniger ist besser. Ich würde nicht von Balance sprechen. Bei Alkohol oder Radioaktivität geht es ja auch nicht um Balance, sondern darum, dass weniger besser ist.

Was halten Sie von Konzepten wie Smart Home und Smart Living? Wie „smart“ sollte unser Zuhause sein?

Das muss jeder fürsich entscheiden. Ich persönlich bin da eher zurückhaltend: Warum soll in meinem Haus dauernd ein Computer laufen (und Energie verbrauchen), damit ich das Licht per Smartphone ein- und ausschalten kann, wenn ein einfacher billigerer und keine Energie verbrauchender Schalter dies auch tut?

Was halten Sie von den Entwicklungen im Kontext einer Smart City? Wie „smart“ sollten unsere Städte sein?

Wenn wir viel mehr Sensoren aufstellen, vernetzen und die Daten mit KI auswerten, können wir den Verkehr besser regulieren und Staus vermeiden, die Waschmaschinen einschalten, wenn der Strom billig ist, unsere Elektroautos als Batterien verwenden und vieles mehr. Ob der Aufwand lohnt und die Leute das mögen, wird sich erst in einigen Jahren zeigen.

Vita
Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Manfred Spitzer durch sein Buch „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“. Spitzer studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, wo er sich auch zum Psychiater weiterbildete und die Habilitation für Psychiatrie erlangte. Von 1990 bis 1997 war er als Oberarzt in Heidelberg tätig. Gastprofessuren an der Harvarduniversität und ein Forschungsaufenthalt am Institut for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon prägten seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychia­trie. Seit 1997 hat er den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne und leitet die dortige Psychiatrische Universitätsklinik. 2004 gründete er das TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen an der Universität Ulm.

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